Von Gastautor Olaf Lorke
Wer von meinen Lesern erinnert sich noch an das Kinderbuch „Zwiebelchen“ des italienischen Schriftstellers Gianni Rodari? Ich glaube, dazu muss man in der DDR aufgewachsen sein. Dieses Buch wurde 1972 vom Kinderbuchverlag Berlin verlegt.
Zwiebelchen, ein Held aus meiner Kindheit. Hat sich für die mit-unterdrückten Gemüse-Freunde eingesetzt und sich gegen die arroganten, abgehobenen Fürsten und Barone namens Zitrone, Tomate oder Apfelsine zur Wehr gesetzt. Dunkel erinnere ich mich an Namen wie Peter Porree oder Herr Erbse.
Ein Buch für die Gerechtigkeit und Freundschaft. Ja, ein „sozialistisches“ Kinderbuch, für das die Genossen in der DDR gerne die Rechte erworben haben. Der Schriftsteller, Gianni Rodari (1920-1980), hat – geprägt durch den italienischen Faschismus – zeitig mit den Kommunisten sympathisiert. Das Buch war seinerzeit ein Bestseller, wie viele seiner anderen Werke auch.
Die sozialistischen Ideen trüben nicht meinen Rückblick aus heutiger Sicht. Wir Kinder haben es geliebt, „unser Zwiebelchen“. Kinder haben nun einmal einen Gerechtigkeitssinn. Es gab auch eine gewisse Ehrfurcht vor dem Erzähler. Ein Schriftsteller aus einem fernen, unbekannten und auch noch kapitalistischen Land. Wie mochte er dort leben?
Warum erzähle ich das? Weil ich vor kurzem durch einen witzigen Zufall erneut mit Gianni Rodari konfrontiert wurde. Es gibt nämlich in der kindlichen Schatz-Truhe noch ein weiteres, früheres Werk: „Gelsomino im Lande der Lügner“. 1958 entstanden, im Jahr 1961 in der DDR herausgebracht.
Aufmerksam darauf wurde ich bei einer bekannten Ausstellung. „Voll der Osten“ mit beeindruckenden Schwarz-Weiß-Fotos aus den 80er Jahren und mit Texten des Historikers Stefan Wolle. Diese Ausstellung hatte nun auch Station in unserer Region gemacht. Es gibt sowohl wunderbare als auch gleichzeitig bedrückende Fotos auf Schautafeln zu den Themen Kindheit, Jugend, Verfall, Flucht, Traurigkeit, Sehnsucht, Lüge usw. Es gibt auch Videos im Internet zu dieser Ausstellung, in denen sich insbesondere der Fotograf Harald Hauswald äußert.
Mich hat die Ausstellung betroffen gemacht und ich habe in vielen Schautafeln eigene Erinnerungen wiedergefunden. Dann gehen die Gedanken weiter. Wir hatten 1989 gedacht, wir haben die DDR endlich hinter uns gelassen und gehen euphorisch einer neuen, ideologiefreien Zukunft entgegen.
Wie man sich doch täuschen kann! Sie kehrt zurück, diese DDR! Anetta & Co. sind wieder da. Sie arbeiten mit ähnlichen Methoden wie damals. Vera Lengsfeld hat selbst dazu kürzlich einen treffenden Beitrag geschrieben. Mich macht das alles unendlich traurig. Und wenn ich lese, dass Angela Merkel bei der Einweihung einer neuen BND-Zentrale vor „Fake News“ gewarnt hat, kann ich mir schon denken, was sie den Kollegen mit auf den Weg gegeben hat. Gelernt ist eben gelernt.
Aber ich schweife ab. Zurück zu Gelsomino und Gianni Rodari. Folgenden bemerkenswerten Text kann man auf der Schautafel „Lüge“ lesen:
„1961 erscheint im Ost-Berliner Kinderbuchverlag »Gelsomino im Lande der Lügner«. Autor ist der Italiener Gianni Rodari (1920 bis1980). Seine Satire zielt auf das faschistische Italien seiner Jugend. Im Land der Lügner gilt immer das Gegenteil der Wirklichkeit: Beim Aufstehen wünschen sich die Leute »Gute Nacht« und abends zum Schlafengehen sagen sie »Guten Morgen«. Die Katzen heißen Hunde und sind gezwungen zu bellen. Die Hunde miauen und müssen auf dem Dachfirst balancieren. Bezahlen kann man nur mit Falschgeld. Echtes Geld ist streng verboten.
Es ist vielleicht das beste Buch, das je – und vom Autor unbeabsichtigt – über die DDR geschrieben worden ist. Rodaris Beschreibung einer verdrehten Welt traf so sehr ins Herz des SED-Systems, dass es die Zensoren wohl schlicht nicht wagten, die Satire auf ihr eigenes Land zu beziehen. Denn auch in der DDR galt das Motto aus Rodaris Kinderbuch: »Im Land der Lügner gilt die Wahrheit / als böse Krankheit oder Narrheit.«“ [1] .
Ich habe daraufhin dieses alte, vergilbte Buch (nach gefühlten 45 Jahren) wieder herausgekramt und darin geblättert.
Man projiziert Gedanken dabei sofort auf die heutige Zeit. Ist das nicht seltsam?
Aber: Kann man wirklich so weit gehen? Leben wir in einem Land der Lügner? Ist das nicht Jammern auf hohem Niveau? Wenn man sich in der Welt umschaut, leben wir in Deutschland immer noch in einer gut funktionierenden Demokratie!
Dennoch. Ich bin überzeugt, dass unter Angela Merkel diese Werte zunehmend in Gefahr geraten sind.
Viele Leser können vielleicht mit den besprochenen Kinderbüchern nichts anfangen. Alle Achtung, dass sie es dann trotzdem bis hierher mit dem Lesen meines Beitrags geschafft haben. Der eine oder andere Bezug zu heute sei mir gestattet, auch wenn es „nur“ Kinderliteratur war. Immerhin spricht Herr Wolle vom vielleicht besten Buch, was je „über die DDR geschrieben worden ist“ – siehe oben.
Deshalb zitiere ich zum Schluss noch einige Sätze aus der Gelsomino-Geschichte. Meine Leser mögen sich ihre eigenen Gedanken darüber machen.
Aus Kapitel XII: „Als Hinkebein die Zeitung las, da dachte er: Das ist kein Spaß!“
Es geht um eine Zeitung namens „Der vollkommene Lügner“. Diese Zeitung berichtet genau das Gegenteil von dem, was wirklich passiert ist. Beispiel:
„Es trifft nicht zu, dass die Polizei nach dem bekannten Tenor Gelsomino fahndet. Dazu liegt keinerlei Veranlassung vor, da Gelsomino für den am Stadttheater angerichteten Schaden nicht aufzukommen braucht. Daher soll auch niemand, der über Gelsominos Aufenthalt unterrichtet ist, diesen der Polizei melden, weil er dafür streng bestraft würde.“
Aus Kapitel XIX:
Hier geht es darum, dass Gelsomino mit seinem Gesang das Irrenhaus zum Einsturz brachte, in das Leute gesteckt wurden, die die Wahrheit sagten.
„Es war indessen nur das Ende der Lügen. Der Einsturz des Irrenhauses hatte Hunderte Personen, die die Wahrheit sagten, […], auf einmal in Freiheit gesetzt. Die Wahrheit griff um sich wie eine Epidemie, und der größte Teil der Bevölkerung war bereits von ihr angesteckt…“ [2]
(1) Wolle/Hauswald, Ausstellung “Voll die DDR”, Schaultafel “Lüge”.
(2) Rodari, Gianni, Gelsomino im Lande der Lügner