Von Gastautor Prof. Dr.sc. techn. Dr. rer. nat. Wulf Bennert
Eine dramatische Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist noch nicht wirklich im Bewusstsein der Gesellschaft angekommen: Unsere Dörfer haben die ursprüngliche Grundlage ihrer Existenz verloren – mit gravierenden Auswirkungen auf das gesamte Gemeinwesen.
Dörfliche Siedlungsstrukturen entstanden einstmals mit dem Aufkommen des Ackerbaus und hatten über Jahrtausende die unmittelbare Nähe des Wohnsitzes zum Arbeitsplatz Acker zur Grundlage. Mit wachsender Zahl der bäuerlichen Gehöfte siedelten sich auch landwirtschaftsnahe Handwerke wie Schmied oder Stellmacher und schließlich Versorgungsstrukturen wie Pfarramt, Schänke oder Krämerladen an. Diese Siedlungsstrukturen waren über historische Zeiten stabil und speisten sogar mit ihrem Geburtenüberschuss das Wachstum der Städte. Die Industrialisierung der Landwirtschaft läutete jedoch im letzten Jahrhundert eine Entwicklung ein, deren Folgen erst heute in ihrem ganzen Umfang sichtbar werden. Die technische Vervollkommnung landwirtschaftlicher Maschinen führte zu einem sich immer stärker beschleunigenden Abbau von Arbeitsplätzen. Für Thüringen wurde der Arbeitskräftebesatz pro 100 Hektar vom Statistischen Landesamt schon 2012 mit nur noch 2,5 Menschen angegeben. Diese letzten Beschäftigten in der Landwirtschaft ziehen häufig auch noch als Arbeitsnomaden mit ihren High-Tec-Maschinen von Flur zu Flur – ein Job, für den die Lage des Wohnsitzes bedeutungslos ist. Für Ackerbau und Viehzucht wird das Dorf nicht mehr gebraucht.
Damit ist das seit vorgeschichtlicher Zeit bestehende Motiv für das Wohnen auf einem Dorf praktisch entfallen, und die Dörfer stehen an einem Scheideweg: Entweder es gelingt ihnen, neue Gründe für ein Leben in ihren Strukturen zu finden, oder sie geraten in eine Abwärtsspirale, an deren Ende sogar die Wüstung stehen kann, wie der FOCUS schon 2009 aus der Eifel berichtete. Der Niedergang wird eingeläutet durch den Wegzug der jüngeren arbeitsfähigen Männer und vor allem der Frauen im gebärfähigen Alter. Die zurückbleibende Einwohnerschaft weist dann eine verhängnisvolle Altersstruktur auf, die sich durch die ungenügende Geburtenrate von 1,5 Kindern pro (deutscher) Frau kontinuierlich verschlechtert. Mit mathematischer Gewissheit schrumpft das Dorf selbst dann weiter, wenn niemand mehr wegzieht. Bei diesem Schrumpfungsprozess verschwinden auch unaufhaltsam die Komponenten der dörflichen Versorgung: Sparkassenfiliale, Dorfladen, Kneipe und Arztpraxis; manchmal trotzt nur noch ein einsamer Zigarettenautomat dem Niedergang. Technische Infrastruktur in Größenordnungen ist plötzlich fehlangepasst und steht zur Disposition; die Unterhaltung von Sackstraßen zu einzelnen Siedlungsstrukturen wird zu teuer, Stromleitungen werden unwirtschaftlich, und in die Abwasserkanäle muss Trinkwasser eingeleitet werden, damit überhaupt noch etwas fließt. Welche Folgen es hat, wenn den verbliebenen Bewohnern die Kosten der Fehlanpassung auferlegt werden, zeigt das Beispiel der Gemeinde Hartenberg im Harz: Die Bewohner der letzten 19 noch bewohnten Grundstücke mussten für den Kubikmeter Trinkwasser 57,52 Euro bezahlen (ZDF „Frontal 21“ vom 24.04.2012). Auf dem „Wasserinfrastrukturtag“ im September 2018 forderten die kommunalen Wasserversorger nachdrücklich eine staatliche Förderung für die Anpassung ihrer Ver- und Entsorgungssysteme an die Schrumpfung in ländlichen Räumen.
Doch am schmerzlichsten für die Bewohner schrumpfender Dörfer ist der Wertverlust ihrer Immobilien, der sich hunderttausendfach bis zur völligen Unverkäuflichkeit steigert – das Dogma „Eigenheim = Alterssicherung“ gilt für die Besitzer einfach nicht mehr – sie sind bereits dadurch die großen Verlierer des gesellschaftlichen Wandels im ländlichen Raum. Und sie haben noch mehr zu ertragen. Ihre Häuser genügen den Kreditinstituten nicht zur Besicherung von Darlehen für Baumaßnahmen oder Modernisierung. In vielen Fällen werden sie trotzdem von der um den Schutz der Umwelt besorgten Obrigkeit mit dem Neubau einer vollbiologischen Kläranlage für mehrere tausend Euro beauflagt. Wenn sie dann feststellen, dass ihre durch negativen Realzins entwerteten Ersparnisse dafür nicht mehr ausreichen, könnten sie den Glauben daran verlieren, dass Deutschland ein Land ist, in dem man gut und gerne lebt.
Nicht alle Dörfer sind vom Niedergang betroffen; Glück haben die ländlichen Strukturen im Speckgürtel der prosperierenden Städte: Sie bekommen Vorstadtcharakter. Und es gibt auch inmitten der sich entleerenden Regionen einzelne zukunftsfähige Orte. Sie haben im Kampf um die Ressource Einwohner etwas Besonderes zu bieten, zum Beispiel eine traumhaft schöne landschaftliche Umgebung. Überhaupt hat das Wohnen auf dem Dorf Vorzüge gegenüber dem Leben in einer (großen) Stadt, die man allerdings erst auf den zweiten Blick wahrnimmt:
– die Möglichkeit des kostengünstigen, naturnahen Wohnens
– die Option eines Gartens am Haus
– saubere Luft
– zumeist geringerer Verkehrslärm
– bessere Möglichkeiten der artgerechten Haltung von Haustieren
– gesicherter kostenloser Parkplatz vor dem Haus
– eine oft größere Intensität sozialer Bindungen und Kontakte
– die deutlich geringere Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden
(Schätzungen gehen von einem Verhältnis 1 : 5 aus).
Doch all dies wird überschattet durch die zu groß empfundene Entfernung zu Arbeitsplätzen und modernen Versorgungsstrukturen, mit denen die Großstädte und Ballungsräume locken. Das ist die Triebkraft eines Konzentrationsprozesses, der im ländlichen Raum Verluste an privaten und gesellschaftlichen Vermögenswerten erzeugt, die deutschlandweit zumindest im hohen dreistelligen Milliardenbereich anzusetzen sind – exakte Untersuchungen gibt es immer noch nicht.
Sind die Großstädte nun die klaren Gewinner der Binnenwanderung? Nein! Sie sehen sich inzwischen mit kaum lösbaren Problemen als deren Folge konfrontiert. Der Zuzug aus den ländlichen Regionen hat in Verbindung mit dem Zustrom von ausländischen Migranten bei ihnen zu echter Wohnungsnot und unerträglich steigenden Mieten geführt. Wie dramatisch ein solcher Anstieg sein kann, zeigt das Beispiel der Stadt München.
Entwicklung der durchschnittlichen Angebotsmiete pro m² für Wohnungen aller Baujahre mit einer Größe von 60 bis 80 m² in München /Quelle: Statista 2019
Die Folge ist Gentrifizierung, d. h. die rücksichtslose Verdrängung von Normalverdienern aus den Innenstädten. Um das Zentrum von München kann man einen ständig größer werdenden Kreis schlagen, innerhalb dessen ein Polizist mit dem durchschnittlichen Verdienst von 14,57€ pro Stunde nicht mehr überleben kann. Die „Mietpreisbremse“ greift offenbar nicht, und wenn sie denn greifen würde, könnte sie den Wohnungsmangel nicht beheben. So fehlen nach SPIEGEL 15/2018 in den 77 Großstädten Deutschlands fast zwei Millionen Wohnungen – ein menschliches Grundbedürfnis kann auf dieser Seite des gespaltenen deutschen Wohnungsmarktes nicht mehr befriedigt werden.
Noch bizarrer als der Anstieg der Mieten ist in München die Entwicklung der Immobilienpreise. Von 2011 bis 2018 stieg nach wohnungsboerse.net der Durchschnittspreis für den Quadratmeter einer 30m²-Wohnung von 3.027 € auf 7.632 €, also auf 252 Prozent! Und im Zentrum der Stadt hat der Bodenrichtwert nicht nur in der Kaufingerstraße inzwischen die astronomische Höhe von 60.000 €/m² überschritten. Zusammengenommen haben die Entwicklungen von Mieten und Immobilienpreisen einen Vermögenstransfer in Gang gesetzt, der wenige Gewinner und viele Verlierer kennt. Ursächlich für diese unsoziale Umverteilung in großem Stil ist die Überlagerung dreier Phänomene:
– die Geldpolitik der EZB mit der Folge einer Inflation der Sachwerte
– die Binnenmigration aus dem ländlichen Raum in die Metropolen
– der Zustrom von ausländischen Migranten fast ausschließlich in die Ballungsräume
Verantwortungsvolle Politik müsste sich vorrangig daran messen lassen, wie sie mit solchen Herausforderungen umgeht. Welche Handlungsoptionen gibt es, und in welchem Umfang werden diese ergriffen?
Geldpolitik: Die jeweiligen Bundesregierungen in der nun zu Ende gehenden Merkelära haben die ultraexpansive Geldpolitik der EZB gestützt und ihre Folgen für Sparer und Mieter billigend in Kauf genommen; eine Sinnesänderung deutet sich nicht an und wäre im EZB-Rat vielleicht auch gar nicht mehr durchzusetzen. Die Vermögenspreisinflation wird weitergehen.
Fast ausschließlicher Zustrom von Migranten in die Ballungsräume. Migranten begeben sich nach der Ankunft in Deutschland zielstrebig in Großstädte und Ballungsräume zu ihren dort bereits existierenden nationalen Communities; aufs Land wollen sie in aller Regel nicht. Nun warb die Bundeszentrale für politische Bildung schon 2016 dafür, „die vielfältigen Potenziale, die Zugewanderte mitbringen – wie Mehrsprachigkeit, berufliche Erfahrungen und Qualifikationen, Engagementbereitschaft und interkulturelle Kompetenzen“ systematisch für die Entwicklung ländlicher Regionen zu nutzen. Um aber den Strom der engagierten Kompetenzträger in schrumpfende Dörfer umzulenken, müssten angesichts ihrer geringen Affinität zu ländlicher Idylle „gemeindescharfe“ Wohnsitzauflagen dauerhaft verhängt werden können. Wohnsitzauflagen sind jedoch nach einem Urteil des EuGH von 2016 überhaupt nur zulässig, wenn sie der Integration des Betroffenen dienen. Auf der Grundlage dieser höchstrichterlichen Entscheidung bieten im Internet Fachanwälte den „Betroffenen“ ihre Dienste zur Abwehr solcher Auflagen an – der Erfolg dürfte ihnen sicher sein. Und es gibt noch genügend weitere Strategien, sich der Bindung an einen Ort zu entziehen, den man nicht attraktiv findet. Die Politik sollte keine Steuergelder mehr für traumtänzerische Studien zum Thema der Gesundung des ländlichen Raumes durch Migranten verschwenden! Diese sind keinesfalls mit der Absicht geflüchtet, ihr weiteres Leben in Kleineutersdorf (Saale-Holzland-Kreis) zu verbringen.
Binnenmigration aus dem ländlichen Raum in die Großstädte. Wie sich Deutschland durch den demografischen Wandel verändern wird, haben Wissenschaftler wie Herwig Birg der Politik schon seit einem halben Jahrhundert ins Stammbuch geschrieben; wirkliches Gehör fanden sie nicht. Wäre es anders, hätte wohl nicht erst am 26.09.2018 eine Kommission der Bundesregierung „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ ihre Arbeit aufgenommen, die bis zum Herbst 2020 Vorschläge zu deren (schlichtweg unmöglicher) Schaffung erarbeiten soll. Auch ohne eine weitere zwei Jahre dauernde Untersuchung lassen sich einige wesentliche Forderungen für den politischen Umgang mit dem Wandel im ländlichen Raum formulieren:
– Die Politik sollte die gewaltige Dimension der Konzentrationsprozesse und ihrer wirtschaftlichen Folgen für die Gesellschaft anerkennen.
– Sie sollte akzeptieren, dass ihre dringend gebotene Minimierung nur mit außergewöhnlichen Maßnahmen gelingt.
– Eine grundsätzliche Änderung unseres Steuersystems könnte den ländlichen Raum wieder attraktiv für Arbeitsplätze machen – eine unabdingbare Voraussetzung für dessen Überlebensfähigkeit.
Sie könnte dadurch erfolgen, dass den Kommunen die Steuerhoheit für Gewerbesteuer und Grundsteuer entzogen wird, um deren Hebesätze dann zentral nach demografischen Kriterien festzulegen – vielerorts mit dem Wert Null. Die Kommunen wären dafür aus dem Steueraufkommen des Bundes zu entschädigen.
– Die Bundesländer dürften in Schrumpfungsregionen Immobilienverkäufe nicht mehr durch Grunderwerbssteuer belasten, sondern müssten zumindest lokal auf die Erhebung dieser Steuer verzichten.
– Die Kosten einer Unternutzung technischer Infrastrukturen dürfen weder den Bewohnern noch den Kommunen in Schrumpfungsregionen auferlegt werden; der Bund sollte sie ebenso übernehmen wie Defizite beim ÖPNV.
– Das neue Mobilfunknetz 5G bietet mit Übertragungsraten von bis zu 10 Gigabit pro Sekunde die Möglichkeit, hochqualifizierte Tätigkeiten auch von zu Hause auszuüben. Daher braucht der ländliche Raum eine flächendeckende Versorgung mit diesem Netz „bis zur letzten Milchkanne“.
– Es muss ein zentrales Marketing für unsere Dörfer geben, mit dem die (im Vergleich zur Großstadt ständig zunehmenden) Vorteile des Lebens in seinen Strukturen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht werden – das einzelne Dorf ist mit dieser Aufgabe hoffnungslos überfordert.
Natürlich ließen sich noch weitere sinnvolle Maßnahmen empfehlen. Doch die Chancen, dass die Politik solche Empfehlungen wirklich umsetzt, dürften gering sein. Denn der gesellschaftliche Wandel auf dem Lande ist ein Langzeitprozess, und die Politik hat verinnerlicht, wie opportun es ist, nur in der Zeitkonstante der Legislaturperiode zu denken und zu handeln. Was passiert, wenn man von diesem Prinzip abweicht, konnte sie an Gerhard Schröder beobachten. So wird wohl auch in Zukunft für viele Dörfer gelten: Jedes stirbt für sich allein – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in den anderen Industrieländern Europas.
Der Autor war wissenschaftlicher Direktor der Stiftung Schloss Ettersburg – Gestaltung des demografischen Wandels. Dieser Beitrag enthält wortgleiche Passagen aus seinem in Kaleidoscriptum Verlag erschienenen Buch „Windmühlengeschichten“.