von Gastautor Professor Dr. Hans-Peter Schwöbel
Kulturen sind Deutungs-, Interpretations-, Verstehens- und Verständigungshorizonte. Sie umhüllen uns, verbinden uns, trennen uns und schlagen in uns Wurzeln. So sind nicht nur Sprache, Glaube, Alltagsbrauchtum, Tradition, Bildung, Wissenschaft, Kunst, Musik, Literatur, professionelles und alltägliches Gewusst-Wie, Philosophie, Medizin, Erinnern, Vergessen und Vieles mehr kulturell geprägt, sondern auch Gefühle, Gewissen, Verhaltenswahrscheinlichkeiten und Verantwortungsbereitschaft. Also alles, was wir gerne mit den Worten Charakter und Mentalität umschreiben im Sinne individueller und kollektiver Gemüts- und Geisteszustände.
Als Sozialwissenschaftler, Pädagoge und Schriftsteller arbeite ich seit Jahrzehnten für eine offene, tolerante, multikulturelle Gesellschaft. Multikulturell verstanden als Vielfalt im Sinne der oben exemplarisch genannten Felder. In unseren Tagen unverzichtbar verbunden, geschützt und gestärkt durch Aufklärung, Demokratie, Rechtsstaat, Toleranz und wechselseitige Achtung.
Es ist aber ein lebensgefährlicher Irrtum, sich multikulturelle Gesellschaften uferlos, und unbeschützt vorzustellen. Neben Offenheit, Mobilität, Vielfalt und Toleranz, braucht jede Gesellschaft auch Stabilität, Verlässlichkeit, Kontinuität, Grenzen und Achtung vor dem weltlichen Recht. Achtung vor Frauen; Lust auf Aufklärung und Wissenschaft. Dies Gewebe müssen wir täglich neu schaffen und festigen. Wehe, auch nur eine Glaubensgemeinschaft stellt ihre „Allwissenheit“, ihr „Gottesgnadentum“, ihr „Heiliges Buch“, ihren „Alleinerlösungsanspruch“ über die Ideen der anderen und die weltliche Verfassung. Wehe, es entstehen auch nur größere Minderheiten, die Demokratie und Rechtsstaat verachten und Solidarsysteme missbrauchen. Zur Zerstörung von Demokratie, Solidargemeinschaft und Rechtsstaat braucht es keine statistischen Mehrheiten.
Gott ist Idee
Glauben heißt, sich etwas vorstellen. Gott ist Idee. Ob es ihn darüber hinaus als objektive, außermenschliche Realität gibt, wissen wir nicht. Aber wir dürfen es glauben, wir dürfen es uns vorstellen. Religionen sind Erzählungen. Nationen sind Erzählungen. Familiäre Beziehungen und alltägliches Brauchtum sind Erzählungen. Klassen, Stände, Kasten sind Erzählungen, Heimat und Fremde sind (Rahmen-) Erzählungen: Vorstellungen. Vergangenheit ist Erzählung (Geschichte). Zukunft ist Erzählung (Utopie, Vision). Wir Menschen brauchen diese Erzählungen; denn wir vergemeinschaften, verinnerlichen und konturieren uns im Kontext dieser Erzählungen. Sie bilden individuelle Persönlichkeits- und überindividuelle Kulturmuster, die uns Halt geben, und mit deren Hilfe wir uns selbst und einander erkennen und begegnen. Daran ist nichts Beschämendes und Gefährliches, solange wir nicht glauben, mit unseren Vorstellungen objektiv über allem stehende Wahrheiten zu besitzen.
Rorschachtest Religion
Gerade Religionen sind komplexe Deutungsmuster. Sie haben etwas von einem Rorschachtest: Was immer wir in Glaubenszusammenhängen von uns geben, sagt wenig über eine äußere, objektive Realität, aber viel über uns. Weil in Glaubensfragen Phantasie und Empfinden, Sehnsucht, Projektion und Konstruktion so bedeutsam sind, stehen Religionen (wenn sie uns human gelingen!) den Künsten näher als den Wissenschaften. Religionen können eindrucksvolle und hilfreiche Gesamtkunstwerke sein. Nicht felsenfeste Gewissheiten stehen im Raum, sondern Deutungen, Interpretationen, Wahrnehmen, Für-Wahr-Halten. Vor allem: Für-Wahr-Halten-Wollen. Hinter diese Einsicht der europäischen Aufklärung und Wissenschaftsentwicklung dürfen wir nicht zurück. Die Aufklärung ist keine westliche Folklore, sie hat Weltgeltung.
Flucht wovor?
Wovor fliehen Menschen in so großer Zahl nach Europa, besonders nach Deutschland?
Menschen fliehen vor Krieg und politischer Verfolgung. Wenn es nur um sie ginge, könnten wir das Versprechen der Bundeskanzlerin, das sie, ohne uns zu fragen, aber in unserem Namen gegeben hat, vielleicht erfüllen: „Wir schaffen das.“ Aber es geht um viel mehr. Menschen fliehen vor implodierendem (Navid Kermani) und explodierendem Islam. Gleichzeitig tragen sie Islam in sich. Viele fliehen vor der Unbedingtheit des Koran und glauben dennoch an ihn als unveränderliches, unbezweifelbares und nicht relativierbares Wort Gottes.
Große islamische Bewegungen erzeugen seit Jahrzehnten einen globalen Missionsdruck wie seit den Gründergenerationen nicht mehr. Im Nahen Osten und in Afrika finden vor unseren Augen Christenverfolgungen und -vertreibungen durch Muslime statt, ohne dass wir dem vernehmlich entgegentreten. Unser Schweigen ist beschämend.
Im Gespräch mit dem malischen Schriftsteller Ousmane Diarra weist die Süddeutsche Zeitung darauf hin, dass 1950 noch 80% der malischen Bevölkerung Animisten waren, heute sind 90% der Malier Muslime. (Süddeutsche Zeitung, 16.07.2015, S. 11) Auch in Deutschland und Europa nimmt die Zahl der Muslime stark zu, während Christen in Scharen ihre Kirchen verlassen. 2017 sind in Deutschland knapp 170 000 Katholiken und 200 000 Protestanten aus ihren Kirchen ausgetreten. Es gab in den letzten Jahren auch schon deutlich höhere Zahlen. Dies ist eine Feststellung, kein Vorwurf; denn natürlich gehören zu unseren religiösen Grundrechten auch Atheismus und Agnostizismus.
Atheisten und Agnostiker brauchen vielleicht in den nächsten Jahren den größten Schutz. Atheismus und Agnostizismus gehören zu den geistigen Errungenschaften Europas. In ihren anspruchsvollen Varianten sind sie authentische Kinder der Aufklärung. Unsere viel zitierten und wenig genau beschriebenen abendländischen („jüdisch-christlichen“) Werte werden nicht von ihnen bedroht, sondern von stumpfsinnigen religiösen Fundamentalismen einerseits und ähnlich geistarmer Infantil- und “Spaaaß”-Gesellschaft andererseits. Zwischen diesen Extremen könnten unsere wirklichen westlichen Werte zerrieben werden.
Menschen fliehen vor der Tyrannei ihrer Großfamilien und Clans – und tragen sie gleichzeitig mit sich. Sie fliehen vor männlicher Verantwortungslosigkeit, Unhöflichkeit, Ignoranz und Dominanz. Sie fliehen vor Gynophobie, Homophobie und Antisemitismus – und breiten diese Deformationen hier wieder aus. Sie fliehen vor Blutrache und Faustrecht. Sie leiden unter Mangel an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und verachten gleichzeitig diese kulturellen Muster. Sie fliehen vor der Trostlosigkeit ihrer Dörfer und Städte ins gleißende Licht Europas, das ihnen seit Jahrzehnten von großen und kleinen Bildschirmen entgegenflimmert. Sie blicken in verzauberte Spiegel und finden sich in Europa. Sie kommen in Massen zu uns, weil sie hierher gelockt und von demagogischen muslimischen (verschiedentlich auch christlichen) Predigern hierher geschickt und befohlen werden.