Von Gastautor Annette Heinisch
Schon Anfang letzten Jahres schrieb ich in einem Beitrag mit dem Titel „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ darüber, dass zunehmend mehr Bürger sich genau das denken, wenn sie auf das politische Führungspersonal schauen.
„Das Unwohlsein wächst, denn wir scheinen mit zunehmendem Tempo auf den Abgrund zuzurasen und ängstlich fragen wir uns: Sieht unser Fahrer wirklich aus wie James Dean?“.
Das Unwohlsein wächst. Die einen können viele Probleme sehr klar benennen, sie auch mit Zahlen und Fakten belegen. Gerade kürzlich erschien ein Buch mit dem vielsagenden Titel „Das Märchen vom reichen Land. Wie die Politik uns ruiniert“ von Dr. Daniel Stelter. Die Mahner kommen mitnichten nur aus dem rechten oder nationalistischen Lager, viele sind anerkannte und dennoch ignorierte Wissenschaftler. Nicht gelöste Probleme der Vergangenheit, die unter der Oberfläche metastasieren, sind tickende Zeitbomben. Keiner weiß genau, wann und durch welchen Anlass sie explodieren werden, aber viele wissen, dass dies passieren wird.
Ein wirtschaftlicher Abschwung wird für unsere westlichen Gesellschaften äußerst kritisch. Der Telegraph schrieb kürzlich:
“The world’s major economies are skating on dangerously thin ice and lack the fiscal, monetary, and emergency tools to fight the next downturn.
A roster of top crisis veterans fear an even more intractable slump than the Lehman recession when the current ageing expansion rolls over. The implications for liberal democracy are sobering.”
Viele meinen, Europa wäre schon immer der Nabel der Welt gewesen. Das ist so nicht ganz richtig, bis in das 17. Jahrhundert hinein waren China und Indien wirtschaftlich vorherrschend. Die Größe eines Marktes wurde bestimmt von dem Produktionsfaktor „Mensch“ und davon gab es dort viele. Erst mit der industriellen Revolution änderte sich dies, als Maschinen die Menschen als Faktor ersetzten. So kam es nicht überraschend, dass Großbritannien als Mutterland der industriellen Revolution trotz eigentlich mangelnder Größe zur Weltmacht avancierte.
Aber es war nicht der industrielle Fortschritt allein, der die westlichen Länder erfolgreich machte. Die industrielle Revolution war ein Fortschritt der Technik, der wiederum eine Folge des Zeitalters der Vernunft, „the age of reason“, war. In dieser Zeit wurde der Wert des Verstandes als Mittel zur Problemlösung erkannt, ratio statt weltanschaulich/religiös gesteuerte emotio wurde bedeutsam, deshalb auch speziell geschult. Diese Entwicklung hin zum rationalen Denken führte letztlich zur Aufklärung und zur Änderung der gesellschaftlichen Organisationsmodelle entsprechend dem damaligen Stand des Wissens. Dieser „Doppelpack“ aus Fortschritt in Gesellschaft und Technik führte zum Aufschwung der westlichen Kulturen.
Heute leben wir wieder in einem Zeitalter der Transformation. Wir leben im Roboterzeitalter, d. h. in einer Zeit, in der Maschinen das Denken lernten. Zeitgleich verlernen es die Menschen, zumindest bei uns.
Unser Menschenbild, unsere Ausbildung und unser gesellschaftliches Organisationsmodell sind auf dem Stand des Kutschenzeitalters stehen geblieben. Wir meinen, mit unseren überholten Vorstellungen von staatlicher Organisation und Bildung (unter Missachtung des wohl wichtigeren Faktors Erziehung) die Zukunft meistern zu können, obgleich wir in allen hochzivilisierten westlichen Ländern erkennen können, dass diese Form von Organisation an ihre Grenzen gestoßen ist. Sie ist als Instrument für derart vielschichtige Gesellschaften nicht geeignet und müsste fortentwickelt werden.
Wir werkeln aber weiter als gäbe es keine grundlegenden Probleme, gefangen in den kleinlichen Streitigkeiten der Tagespolitik und einem politischen Blockdenken, welches fatal an den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten in vergangenen Zeiten erinnert. Dabei kann es keine Gewinner geben. Machen wir weiter so wie bisher und nehmen uns nicht die Zeit, offen und auf rationaler Basis zu überlegen, wie wir uns besser an die geänderten Zeiten anpassen, werden wir ein abgewandeltes Remake des Dreißigjährigen Krieges mit zahlreichen zerstrittenen Parteien und gravierenden Verheerungen erleben, an deren Ende nur eine Trennung der Konfliktparteien zu einer Befriedung führen kann. Befriedung ist aber kein Fortschritt. Damit hätten wir das nächste Jahrhundert verspielt, denn Asien hat mit rationalen Überlegungen und Geduld – eine hier weit unterschätzte Tugend – seit mehreren Dekaden wieder aufgeholt. Mittlerweile hat Asien nicht nur reichlich Menschen, sondern auch Maschinen und Roboter. Was noch wichtiger ist: Sie haben auch die entsprechend hochqualifizierten Fachkräfte, die Roboter sowohl bauen als auch bedienen können nebst einer kulturell bedingten guten Arbeitshaltung. Die asiatischen Länder sind also nicht erst lang –, sondern schon mittelfristig als Produktionsstandorte wesentlich attraktiver als Europa, das zudem noch unter erheblichen Soziallasten leidet. Zölle, welche die Produktion hier in Europa halten könnten, sind verpönt. Vor 200 Jahren lagen die Zölle bei 50 – 70 %, heute liegen sie bei 5 – 10 %. Der derzeitige Versuch Trumps, mit Hilfe von Zöllen die Entwicklung aufzuhalten, kommt ca. 20 Jahre zu spät. Einzig die Transportkosten sind ein Hindernis, dem aber die asiatischen Länder mit günstigen Steuern begegnen. Asien leidet auch nicht unter einer überbordenden Bürokratie, die das wesentliche Handelshemmnis der Moderne darstellt und Europa zur lahmen Ente macht.
Während wir diese Bürokratie munter immer weiter ausbauen, selbst an Technischen Universitäten unseren Fokus auf die Ausbildung integrierter Sozialwissenschaftler legen und auch ansonsten alles tun, um möglichst schnell und tief in eine Sackgasse zu fahren, uns dabei vorzugsweise mit uns selbst beschäftigen, weil wir uns irrtümlich für den Nabel der Welt halten, geht die Entwicklung weiter – nur weitgehend an uns vorbei. Das wird zu einem wirtschaftlichen Abschwung führen, unser Sozialstaat wird dann nicht mehr oder nur mit enormen Schulden finanzierbar sein. Dass unser System, welches auf reichlich Einnahmen zum Zwecke der Umverteilung (man könnte es auch Stimmenkauf nennen) angewiesen ist, auf Sand gebaut ist, wird zunehmend deutlich werden. In der Folge werden autokratische Systeme Zulauf bekommen. Die großen Errungenschaften der westlichen Zivilisation wie Menschenrechte sowie der Versuch der Begrenzung und Kontrolle staatlicher Macht kommen unter die Räder.
Können wir etwas dagegen tun?
Ja, natürlich. Unser Schicksal sind wir selbst. Wir können endlich anfangen, Staaten von ihrem Podest zu holen, sie rational als reine Organisationsmodelle für ein hochkomplexes und dynamisches System „Gesellschaft“ zu sehen und versuchen heraus zu finden, wie dieses besser funktionieren kann. Wozu haben wir unseren Verstand? Dieser ist durchaus in der Lage herauszufinden, wie man mit komplexen und dynamischen Systemen sinnvoll umgeht.
Solche Systeme werden (vereinfacht gesagt) in der Technik mit Hilfe der Mess –, Steuer – und Regelungstechnik gelenkt. Eine Steuerung liegt dann vor, wenn eine Maschine einen direkten Befehl mit einer binären Option bekommt, z. B. Licht an – aus. Eine Regelung liegt vor, wenn nur ein Ziel vorgegeben wird, das erreicht werden muss. Ein bekanntes Beispiel ist der Thermostat an der Heizung, der auf eine bestimmte Raumtemperatur eingestellt wird. Die Heizung heizt bis auf diese Temperatur und stellt sich dann selbstständig ab. Wird es zu kalt, was mittels der Messtechnik festgestellt wird, schaltet sie sich wieder an.
Schaut man sich an, wie Gesellschaften gelenkt werden, so stellt man fest, dass eigentlich genau dieselben Methoden angewandt werden. Die Steuerung erfolgt durch Gesetze, die Ver – oder Gebote enthalten, deren Einhaltung durch den Staat überwacht wird. Regelungen erfolgen z. B. über die kulturellen Übereinkünfte einer Gesellschaft wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft u. ä. Hier werden Ziele vorgeben, deren Einhaltung – zumindest theoretisch – die Gesellschaft überwacht. Auch der Staat nutzt die Regelungstechnik z. B. bei der Verfassung. Dort werden (allerdings deutlich zu vage) Ziele vorgegeben wie Freiheit oder Gleichheit. Als Thermostat fungiert das Bundesverfassungsgericht, dessen Aufgabe es ist zu kontrollieren, ob der Staat die Ziele (ähnlich der Raumtemperatur) einhält. Ob die Ziele/Raumtemperatur gut sind, ist eine andere Frage, die das Gericht ebenso wenig wie der Thermostat beantworten kann. Im Recht nennt man dies das Böckenförde – Diktum, dass der Staat nämlich von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht herstellen kann. Da geht es ihm ähnlich wie dem Heizungsbauer.
Mittlerweile ist die Technik sogar weiter, die Maschinen können äußere Signale selbstständig verarbeiten, eigenständig aus Erfahrung lernen und untereinander kommunizieren. Das ist die Revolution des neuen Zeitalters. Diese Entwicklung zu intelligenten Maschinen setzte voraus, dass man sich von schlichter Steuerung verabschiedet. Diese ist völlig überfordert damit, komplexe und dynamische Situationen adäquat in den Griff zu bekommen. Es blieb nichts anderes übrig, als mehr über differenzierte Regelung zu machen und in diesem Rahmen sowohl die Zielerfassung wie – verfolgung einer selbstlernenden Maschine zu überlassen.
Im Prinzip sind es also dieselben Methoden, mit denen komplexe System gelenkt werden, unabhängig davon, ob es um hochkomplexe Technik oder eine Gesellschaft geht. De facto ähneln Gesetze sogar mathematischen Gleichungen/Algorithmen, sie sind ähnlich aufgebaut. Nicht umsonst heißt es, dass ein Jurist Mathematik beherrschen sollte, weil Gesetze derselben Logik unterliegen, nur eine andere, nämlich sprachliche Ausdrucksform haben. Leider haben Juristen meist keinen blassen Schimmer von Mathe, denn hätten sie diesen, studierten sie BWL oder VWL. Das bekommt der Jurisprudenz schlecht.
Wer einmal begriffen hat, dass prinzipiell komplexe Systeme immer mit denselben Instrumenten beherrscht werden und weiß, dass man objektiv herausfinden kann, welche Instrumente zielführend sind und welche nicht, kann die ganze Debatte um Weltanschauungen nur kopfschüttelnd verfolgen. Es ist dann völlig klar, dass Planwirtschaft, d. h. ein maßgeblich auf Steuerung und nur in geringem Maße auf unterkomplexen Regelungen („Planziele“) bauendes Instrumentarium mit komplexen und dynamischen Abläufen keinen Erfolg haben kann. Die Marktwirtschaft ist deshalb erfolgreicher, weil sie – wie moderne Roboter – im Rahmen äußerer Regelung auf eigenständiges Handeln und Lernen setzt. Das ist tatsächlich die einzige Chance, mit komplexen und dynamischen Systemen umzugehen.
De facto machen unsere Staaten das Gegenteil. Die Parlamente produzieren ohne Unterlass Gesetze und versuchen, durch Steuerung das Nichtsteuerbare zu beherrschen. Ob Mietpreisbremse oder Fahrverbote, überall wird gesteuert. Viele Bürger verlangen es und werfen dem Staat (wie früher Gott) vor, warum er denn nicht alles so steuern kann, dass es paradiesische Zustände gibt. Einfache Antwort: Es geht nicht. Das ist keine Frage des Willens, es ist eine Frage der Möglichkeit. So wie der Kommunismus/Sozialismus scheitern musste, so werden alle Regierungssysteme scheitern, die maßgeblich auf Steuerung setzen und nicht den Fokus auf Regelung und selbststeuernde Teileinheiten legen.
Wir müssen also über eine doppelte Denkhürde springen:
Die eine ist der Irrtum, unser politisches Organisationsmodell sei das non plus ultra, das Ende der Geschichte. Es könne und dürfe nicht – wie sonst alles andere auch – ständig einer grundlegenden, kritischen Prüfung unterzogen und verbessert werden. Das ist Stillstand und damit Rückschritt.
Die zweite Hürde ist der Irrtum, man könne nicht herausfinden, wie komplexe und dynamische Systeme funktionieren, das sei reine Ansichtssache und bei verschiedenen Ansichten müsse man eben Kompromisse schließen. In allen anderen Bereichen kann man herausfinden, wie Lenkung funktioniert. Nur beim Staat soll das nicht gehen? Das ist doch absurd! Dieselben, die das behaupten, sagen ebenfalls, unser System sei das beste und damit Ende der Diskussion. Aber wenn man doch gar nicht objektiv feststellen kann, was gut ist, woher dann diese Gewissheit? Und woher kommt sie in Anbetracht der Tatsache, dass die westlichen Demokratien von den USA bis Europa allesamt in einer Krise stecken?
Natürlich wird es nur über den mühevollen Weg des Versuchs und Irrtums gehen. Aber wir sollten uns zumindest auf diesen Weg machen. Für den Anfang wäre es klug, sich die gesammelten wissenschaftlichen Erkenntnisse über Menschen, ihre Verhaltensweisen sowohl als Individuum als auch in Gruppen zu Gemüte zu führen. Es ist mittlerweile bekannt, dass der rein rational denkende und entscheidende Mensch, der homo oeconomicus, eine Illusion ist. Wie aber soll die Gesellschaft gut organisiert werden, wenn ihre grundlegenden Prinzipien auf einem Trugbild beruhen?
Die Börse hat sich schon lange von diesem verabschiedet. Wenn Illusionen das eigene Geld kosten, verliert man sie schnell. Es musste gelernt werden, mit den Fehlbarkeiten der Menschen umzugehen, denn anders als die Politik konnte man nicht fortwährend versuchen, den idealen Menschen zu schaffen. So ist z. B. altbekannt, dass Menschen Verluste hassen, sie diese als äußerst schmerzlich empfinden. Also machen sie sich gerne etwas vor, selbst wenn eine Aktie in den Keller rauscht, bleiben sie fest davon überzeugt, dass das nur eine kurze Delle ist, die bald vorüber sein wird. So lässt man Verluste laufen, Gewinne nimmt man oft zu schnell mit. Diese Verhaltensweise, d. h. den enormen Unwillen, unliebsame Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, kennt jeder von uns aus dem Alltag. Wie sagt der Volksmund: “Die Hoffnung stirbt zuletzt!“
An der Börse hilft man sich damit, sogenannte stop loss – Marken zu setzen, bei deren Erreichen das Wertpapier abgestoßen wird. Diese sind natürlich unterschiedlich gesetzt, bei einer längerfristigen Anlage werden auch größere Schwankungen toleriert als bei kurzfristigen, denn „Hin und her macht Taschen leer“. Das ist wie bei einer Ehe oder langfristigen Partnerschaft, da durchlebt man Höhen und Tiefen gemeinsam und zieht nicht vorschnell die Reißleine. Grundsätzlich wird der Kursverlauf analysiert, der das sichtbar gemachte menschliche Verhalten ist, nämlich Käufe und Verkäufe, die manchmal in regelrechte hypes ausarten. Menschliches Verhalten weist typische Muster auf, daran kann man die Kursmarken erkennen, bei denen ein Kauf oder Verkauf angeraten ist. Natürlich gibt es keine Erfolgsgarantie, Sicherheit gibt es in dynamischen, komplexen und zukunftsgerichteten Strukturen nie, insoweit ähnelt die Börse der Politik. An der Börse macht man sich und anderen über den Mangel an Sicherheit aber nichts vor, sondern stellt sich dieser Tatsache. Als Reaktion wird versucht herauszufinden, welche Verhaltensweisen relativ risikoreich oder – arm sind. Zusätzlich wird das Risiko durch ein striktes Geld – und Risikomanagement begrenzt. Es ist eben nicht „other peoples money“, das man ohne Konsequenzen befürchten zu müssen zum Fenster herauswerfen kann. Erfolgreicher Börsenhandel erfordert viel Know – How und Selbstdisziplin. Die Märkte, die nichts anderes sind als ein Sammelbecken menschlichen Verhaltens, kann man verstehen lernen und man kann lernen mit ihnen umzugehen, wenn man lernt, die emotionalen Fallen zu beherrschen.
Wenn es an der Börse möglich ist, menschliche Verhaltensmuster zu erkennen und mit erkannten menschlichen Schwächen umzugehen, dann muss es in der Politik ebenso möglich sein.
Wer uns in dem Glauben bestärkt, unser Verstand sei völlig außerstande, vernünftige und tragfähige Organisationsmodelle für Staaten zu erforschen, ist entweder dumm, denkfaul oder will das Volk willfährig halten. Es wird Zeit, dass wir uns von dem Irrtum befreien, irgendwelche Gurus mit mehr oder minder obskuren „Narrativen“ würden uns erlösen und das Paradies auf Erden bereiten. Heute gilt genau wie vor mehr als 200 Jahren: Sapere aude!