Leserbrief als Ergänzung zum Artikel “Peinlich, peinlicher Tagesspiegel”

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Hallo Frau Lengsfeld,

mit Interesse aber auch mit großer Skepsis habe ich in den Medien den aktuellen “Skandallfall” zu Alexander Gaulands Artikel in der FAZ verfolgt.

Was wird uns Bürgern eigentlich hier erzählt ? Der Artikel von Michael Seemann “Eine andere Welt ist möglich – aber als Drohung” vom 25.10.2016, erschienen im Berliner Tagesspiegel, enthält nicht nur gewaltigen Zündstoff bezüglich der Deutungshoheit der dort beschriebenen “globalen Klasse”, sondern erklärt dem Leser bis ins tiefste Knochenmark hinein, wie sie über das Bürgertum, den demokratischen Souverän aber auch das Völkerrecht denkt, urteilt und bestimmt.

Werfen wir also einen genauen Blick auf die Definition dieser “globalen Klasse”. Der Bezug zum Artikel des Autors Ralf Dahrendorf im November 2000, “Die globale Klasse und die neue Ungleichheit” aus der 1947 gegründeten Zeitschrift Merkur, Zeitschrift für europäisches Denken, wurde ja bereits hergestellt. Wer ist also die globale Klasse, die ihre Standards nicht nur für Wirtschaft, sondern auch für Politik, Kultur und Moral setzt ? Michael Seemann geht hier über die These von Ralf Dahrendorf hinaus. Wie wir durch die Medien erfahren konnten, wird gerade dieses Verständnis als allgemeingültig verstanden und kompromisslos propagiert.

Zum Verständnis der globalen Klasse, die uns der Autor vermitteln möchte:

Zunächst wird die globale Klasse als eine Entstehung aus einer modernen jungen Generation aus dem Bürgertum selbst heraus erklärt, die eine Globalisierung beschleunigt habe.

Zitat: “Die Machtverschiebung ging im Stillen vor sich. Irgendwann begann sich der progressivere Teil des Bürgertums sozial enger mit seinesgleichen über Ländergrenzen hinweg zu vernetzen und kulturell zu orientieren. Die globale Klasse entstand und hat den kulturellen Wandel der Globalisierung beschleunigt. Die progressiven, zunehmend global Orientierten haben die anderen einfach abgehängt. Aber weil sie anders herrscht und weil sie sich dabei mit der Gesellschaft selbst verwechselt, merkt sie es nicht mal. Sie hat keine Gewalt auf ihrer Seite, und die meisten haben noch nicht einmal wahnsinnig viel Geld. Im Gegenteil.”

Also, wir selbst als ehemaliges Bürgertum sind es also, die diese Überwindung der alten, brutal kapitalistischen Elite gewollt und durchgesetzt haben.

Zitat: “Eine Elite, die zwar egoistisch und brutal kapitalistisch war, die aber kulturell anschlussfähig und national bezogen blieb.”

Nach Auffassung des Autors repräsentieren konservative Ansätze eine entmachtete Elite der guten alten Zeit, die sich die Leute zurückwünschen. Diese werden den so verstandenen Neurechten aber auch in den konservativen Flügel der AfD hinein interpretiert. Kaum verwunderlich ist damit der häufig verwendete Kampfbegriff “der ewig Gestrigen”.

Die Deutungshoheit der globalen Klasse, zu denen auch der Großteil der Medien gehört, wird hier als alternativlos zementiert. In diesem Zusammenhang sei einmal auf die Alternativlosigkeit unserer Kanzlerin Angela Merkel hingewiesen. Eine Analogie ist unübersehbar.

Zitat: “Und weil man gegen die globale Klasse nicht moralisch und argumentativ gewinnen kann, bleibt der alternativen Rechten nur noch, jede Moral und jedes Argument zu verweigern. Trump und Brexit und die Rehabilitation von „Völkisch“ sind argumentative und moralische Pflastersteine in unsere Vitrinen. Sie sind der internationale Aufstand gegen die kulturelle Hegemonie der globalen Klasse. Der Brexit macht die Richtung klar: Eine andere Welt ist möglich. Aber als Drohung.“

Ist dieses Verständnis zur Vormachtstellung der “globalen Klasse” also nur eine Meinung des Autors M. Seemann oder wird dies in den Medien, in der Politik und im öffentlichen Raum bedingungslos so verstanden, propagiert und gelebt. Nun, der Leser mag sich selbst ein Urteil darüber bilden, warum die im Artikel benannten Parteien SPD, Grüne, CDU, Linke und FDP kaum noch voneinander zu unterscheiden sind. Sie alle haben eins gemeinsam. Sie distanzieren sich klar vom “Ewig Gestrigen”.

Der bestehende Neoliberalismus wird im Artikel geschickt umschifft. Alternativ wird hier auf den “alten aggressiven Kapitalismus der 80er und 90er Jahre hingewiesen. Kein Wort zu Milliardären, die Denkfabriken und NGOs finanzieren, kein Wort zu Hochfrequenzhandel an den Börsen, kein Wort zur Geldpolitik durch Zentralbanken. Im Gegenteil. Es wird der Eindruck erweckt, wir das ehemalige Volk gehören zur globalen Elite, ob abgehängt oder nicht. Spätestens hier müssten die Linkspartei und die Sozialdemokraten auf die Barrikaden gehen. Stattdessen bleibt diese wichtige Debatte bei Sozialdemokraten im Nirgendwo und verliert sich in der Abgegrenztheit zum Ewig Gestrigen, das sich scheinbar nur noch durch herbei gezerrte Analogien zur NS-Zeit begründen kann. Alexander Gauland hätte nach seinen Erfahrungen wissen können, dass sein veröffentlichter Beitrag in der FAZ kontrovers betrachtet wird. Hat er diese Kontroverse womöglich gesucht?

Unabhängig davon, ob sich A. Gauland nun an Publikationen von M. Seemann oder von R. Dahrendorf orientiert hat oder nicht, bleibt festzustellen, dass die Analogie zur Rede Adolf Hitlers von 1933 vor Siemensmitarbeitern, bereits im Vorfeld bestand. Unabhängig von Zufall oder kein Zufall. Im folgenden Auszug aus dem Tagesspiegelartikel von M. Seemann wird noch einmal deutlich, wie er das heute noch bestehende konservativ-bürgerliche Gedankengut versteht.

Zitat: “Da ist zunächst die Erzählung einer Verschwörung, über alle Parteigrenzen hinweg. Es gäbe gar keine echte Demokratie mehr, sondern nur noch die Einheits-Blockpartei CDUSPDFDPGRÜNELINKE. Auch die Medien („Lügenpresse“) steckten mit unter der Decke. Gut wird empfunden, dass die endlich Gegenwind bekämen (Trump, Le Pen, AfD, FPÖ, Brexit) und sich eine „echte Alternative“ (Alternative für Deutschland, Alt-Right-Movement) bildete.”

Wenige Zeilen später weist er darauf hin, es sei leicht, diesen Konsens als Spinnerei abzutun. Zeigt vollkommenes Verständnis für diesen Konsens und macht ihn in einem einzigen Schlusswort wieder zunichte. Eine derartige Demontage muss man erst mal hinbekommen.

Zitat: ”Es ist leicht, diese Vorstellungen als Spinnerei abzutun, aber wenn man sich die drei wesentlichen Eckpfeiler der neurechten Programmatik besieht – Migration, Globalisierung und Political Correctness – dann ist nicht zu leugnen, dass es in diesen Bereichen tatsächlich einen gewissen Grundkonsens in den Medien und Parteien (die CSU mal ausgeschlossen) gibt. Ein Konsens, von dem allerdings gerne angenommen wird, dass es ein gesamtgesellschaftlicher Konsens ist. Weil es vernünftig ist. Weil es menschlich ist. Weil es das einzig richtige ist. Da müssten doch alle dafür sein. Nicht?”

Gaulands erneute Skandalaussage sollte im öffentlichen Raum analytisch und objektiv diskutiert werden. Aufgrund der bestehenden Gefahr ins Ewig Gestrige hinabzurutschen, wird diese wichtige Debatte voraussichtlich wieder mal lediglich an der Oberfläche geführt. Die Wirkung bleibt also somit bestehen. Konservatismus ist brandgefährlich, die AfD böse und Gauland eine Galionsfigur der “Ultrarechten” auf der einen Seite bestehen und auf der anderen eine erneute Möglichkeit des alternativen Blickes darauf.

Mit freundlichen Grüßen

M. B.



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