Von Gastautor H. P.
Justitia, die Göttin der Rechtspflege, sehen wir in ihrem römischen Idealbild allzu gern als Statue vor unserem inneren Auge. Da steht sie vor uns, die hehre Gestalt mit verbundenen Augen, in einer Hand das scharfe Schwert der Gerechtigkeit, in der anderen Hand die Waage der Weisheit und symbolisiert eine Justiz, die ohne Ansehung der Person, ohne Ansehung von Rasse oder Geschlecht oder sonstiger Merkmale oder Ansichten des Einzelnen die Wahrheit finden will und diese mit gerechter aber scharfer Waffe durchsetzt.
Als Anwälte, als Strafverteidiger, als Richter und Staatsanwälte sind wir angewiesen auf das Funktionieren des Rechtsstaates und Justitia. Die alte römische Göttin symbolisiert in der besten denkbaren Weise das, was wir jeden Tag vor Gericht aber auch außergerichtlich zu tun haben.
Manchmal und in letzter Zeit leider immer häufiger gerät das Bild der Justitia aber ins Wanken und man fragt sich als Profi, als Teil des Rechtsstaates, als Teil des Rechtssystems und insbesondere als unabhängiges Organ der Rechtspflege gelegentlich, wie es passieren kann, dass Entscheidungen von Teilen der Rechtspflege nicht mehr nachvollziehbar sind.
Dabei rede ich hier keinesfalls von dem neuerdings üblichen Richter-Bashing, das wir in den Medien lesen, wenn ein Urteil zu mild oder zu streng ist oder wenn ein Urteil in irgendeiner Art und Weise nicht verständlich erscheint.
Die Besonderheit unseres Rechtssystems besteht eben gerade darin, dass die Unabhängigkeit der Richter gewahrt ist.
Es mag Aufgabe der Presse sein, über ein Urteil zu berichten, es ist aber nicht Aufgabe der Öffentlichkeit, darüber zu befinden, ob dieses Urteil gut oder schlecht ist. Diese Aufgabe haben ausschließlich die Richter. Die Medien dürfen darüber berichten, die Öffentlichkeit darf an der Verhandlung teilhaben, um zu garantieren, dass die Richter überwacht werden; um zu garantieren, dass die Richter sich an das geschriebene Gesetz halten und die Verfassung, zu deren Einhaltung sie sich in einem Schwur verpflichtet haben, auch schützen und bewahren.
Die Frage, ob der Einzelne das gut oder schlecht findet, steht dem Einzelnen nicht zu. Die Gesetzgebungskompetenz liegt beim Bundestag, die Überwachung dieser Gesetze liegt bei der Exekutive. Und die Judikative entscheidet über Recht und Unrecht – Justitia eben, die Göttin mit den verbundenen Augen, dem Schwert und der Waage.
Bei den Ereignissen in Chemnitz in den letzten Tagen allerdings frage ich mich, ob Justitia gestolpert oder gestürzt ist, vielleicht ihre Waage verloren hat. Ich glaube schon, dass es für die gute alte Justitia schwierig ist, mit verbundenen Augen zu gehen, insbesondere in einer Zeit, die sich extrem schnell bewegt, in der soziale Netzwerke schneller funktionieren als öffentliche Medien und Berichterstattungen, in der Politiker auf Informationen angewiesen sind, die manchmal langsamer zu ihnen durchdringen, als sie bereits in die Öffentlichkeit durchsickern.
Wenn Justitia mit ihren verbundenen Augen hier ins Stolpern gerät, kann das schon mal passieren. Allerdings bin ich darüber erstaunt, dass Justitia scheinbar nur die Waage der Wahrheit verloren hat, nicht jedoch ihr scharfes Schwert. Wie und warum komme ich auf solche Gedanken?
In Chemnitz gab es einen Mord. Nun mögen mich die Kritiker sofort zerreißen und mir in überbordender Schläue und Belehrungswut mitteilen, dass dies noch gar nicht erwiesen wäre. Das ist mir jedoch egal. Ein Mensch ist getötet worden. Wahrscheinlich auf brutale Art und Weise.
Ich habe durchaus das Recht zu vermuten, dass dies ein Mord ist. Mag am Ende ein Richter feststellen, dass es juristisch anders zu bewerten ist, nun dann ist es so. Natürlich hat der Richter das letzte Wort und die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag ist ohnehin sehr schwierig und für den Laien kaum noch zu verstehen und auch unter Juristen höchst umstritten, ist doch der Mord-§ 211 des Strafgesetzbuches eine Durchbrechung der sonstigen Gesetzeslogik und -systematik.
Die sonstige Gesetzeslogik ist allerdings zwingend. Sie schreibt uns Juristen vor, wie der Gesetzestext zu lesen ist, wie man einen wirklichen Lebenssachverhalt unter diesen Gesetzestext subsumiert und wie man am Ende, wenn alle Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, zu einem Urteil kommt.
In Chemnitz gab es nun also einen Mord, vielleicht auch einen Totschlag oder vielleicht auch nur Verletzung mit Todesfolge, aber dies wird die Zukunft zeigen. Anschließend gab es Demonstrationen. Dann gab es Diskussionen darüber, ob es Hetzjagden gab oder nicht und dann gab es den „Whistleblower“, der den Haftbefehl gegen die mutmaßlichen Mörder veröffentlicht hat.
Dabei ist es klar, dass der Staat nun ermitteln muss, ist ganz klar, dass der Staat sich davor schützen muss, dass seine Beamten in laufenden Verfahren Informationen preisgeben, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Das ist absolut nachvollziehbar. Man kann menschlich darüber streiten und anderer Meinung sein und darüber philosophieren, dass es im Einzelfall wichtiger sein könnte, die Wahrheit zu verbreiten, als den Staat zu schützen.
Diese Diskussionen sind aber nicht Aufgabe der Justiz, diese Diskussionen sind ausschließlich Aufgabe der Öffentlichkeit. Im Justizsinne ist klar: Die Veröffentlichung dieses Haftbefehls war aller Voraussicht nach nicht erlaubt.
Auch das Weiterverbreiten dieses Haftbefehls könnte unter Umständen strafbar gewesen sein. Und hier nun kommt Justitia in Chemnitz ins Straucheln.
Nach allem was wir bisher wissen, ist der Haftbefehl im Internet aufgetaucht und verbreitet worden.
Die Staatsanwaltschaften müssen nun darüber entscheiden, ob diese Verbreitung im Einzelfall verboten ist. Die Staatsanwaltschaften behaupten, dass sie bereits wissen, wer diese Strafbefehle im Internet veröffentlicht und verbreitet hat. Zumindest ergibt sich dies aus der Presse der letzten Woche.
Es sollen verschiedene „rechtsgerichtete“ Organisation gewesen sein, unter anderem der Verein „Pro Chemnitz“, Pegida Mitbegründer Lutz Bachmann, ein Abgeordneter aus Bremen und einige andere.
Mit diesen Informationen mag der Staatsanwalt etwas anfangen. Wenn der Staat der Auffassung ist, das das Weiterverbreiten des Haftbefehls im Internet, beispielsweise das Teilen auf Facebook oder in Whatsapp-Gruppen oder das Abfotografieren und Weitergeben strafbar ist, dann darf und muss er ermitteln. Die Frage ist aber, mit welchem Maß.
In Chemnitz hat es nun, nachdem es dort ein Tötungsdelikt gegeben hat, und eine Vielzahl von Demonstrationen und eine wütende und wilde Öffentlichkeit, die auf der einen oder anderen Seite die Vorfälle in Chemnitz zu ihrem Thema gemacht hat, auch noch Hausdurchsuchungen bei Abgeordneten des Stadtrates gegeben und, was mich besonders erschreckt, auch bei einem Strafverteidiger.
Nun ist dieser Strafverteidiger zwar gleichzeitig auch Politiker und Vorsitzender einer Bürgerinitiative, aber er ist immer noch Strafverteidiger. Als solcher ist er unabhängiges Organ der deutschen Rechtspflege. Er hat einen Eid auf die Verfassung geleistet und seine Aufgabe besteht darin, seine Mandanten zu schützen und zu verteidigen und dafür zu sorgen, dass diese ein faires Verfahren erhalten.
Wenn man nun die Geschäftsräume eines Strafverteidigers durchsucht, dort Computer und Handys beschlagnahmt, greift man nicht nur in die Rechte des Verteidigers ein sondern auch in die Rechte von dessen Mandanten.
Das Grundgesetz regelt sehr deutlich, dass die Wohnung der geschützte Privatbereich eines jeden Bürgers der Bundesrepublik Deutschland ist. Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist im Grundgesetz definiert und garantiert. Nur in extremen Ausnahmefällen, wenn ein übergeordneter Zweck beispielsweise die Strafverfolgung dies rechtfertigt, darf die Unverletzlichkeit der Wohnung verletzt werden.
Im Falle eines Rechtsanwalts und Strafverteidigers kommt dazu, dass durch eine Durchsuchung, Hausdurchsuchung oder eine Beschlagnahme auch in dessen Rechte am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, also in sein in Art. 14 Grundgesetz geschütztes Recht auf Eigentum eingegriffen wird. Darüber hinaus wird durch die Beschlagnahme von Datenträgern, von Akten und Computern oder von Telefonen auch noch die Interessen einer Vielzahl seiner Mandanten berührt, weil nun plötzlich vertrauliche Informationen der Mandanten des Verteidigers an die Ermittlungsbehörden gelangen.
Darüber hinaus wurden nun in Chemnitz auch Privatwohnungen von Abgeordneten durchsucht. Wie man der Presse entnehmen kann, wurden sogar die Geschäftsräume des Vereins Pro Chemnitz durchsucht, der eine Fraktion im Chemnitzer Stadtrat stellt. Diese Geschäftsräume sind im juristischen Sinne nicht die Räume von Beschuldigten in einem Strafverfahren, sondern sie gehören einem Verein. Dieser Verein ist ein so genannter Drittbetroffener. An eine Durchsuchung in den Geschäftsräumen eines sogenannten Drittbetroffenen werden jedoch noch strengere Anforderungen gestellt.
Es erschließt sich in Chemnitz aber nicht, wozu all diese Maßnahmen dienen sollen, außer um etwas zu tun, was Justitia überhaupt nicht zusteht und was mit dem Idealbild der römischen Gerechtigkeitsgöttin in keiner Weise vereinbar ist, nämlich Angst zu schüren.
Die Funktion dieser Durchsuchungen hat im Ermittlungsverfahren nahezu keinen Sinn, wie ich sofort darstellen werde. Allerdings erzeugen diese Maßnahmen eines in ganz offensichtlicher Weise: nämlich Angst. Angst vor dem Staat, der plötzlich, obwohl ihm dies im Grundgesetz verwehrt ist, die Unverletzlichkeit der Wohnung nicht mehr wahrt, der in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb eingreifen kann, der die Räume von Abgeordneten durchsuchen kann und darüber hinaus sogar in die Geschäftsräume eines drittbetroffenen eingetragenen Vereins einfach so hereinmarschiert, dort Telefone, Computer und Festplatten beschlagnahmt und sich die Freiheit herausnimmt, darauf herum zu schnüffeln in der Hoffnung, dass er dort irgendetwas findet.
Eine Hausdurchsuchung und auch eine daran anschließende Beschlagnahme muss nämlich, wie das Bundesverfassungsgericht vielmals festgestellt hat, verhältnismäßig sein. Das heißt, der mit der Maßnahme beabsichtigte Zweck der Förderung des Ermittlungsverfahrens muss in einem maßvollen sinnvollen Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs in die grundrechtlich geschützten Rechte stehen.
Im Chemnitzer Fall ist es nun so, dass ja ganz offensichtlich bereits feststeht, dass einzelne Mitarbeiter des Vereins Pro Chemnitz e.V. den bekannten Haftbefehl veröffentlicht haben, indem sie ihm ihn ins Internet gestellt haben. Es steht sogar fest, wann und auf welcher Plattform. Das sieht man ja bereits, wenn man die entsprechenden Seiten googelt. Durch das Geständnis des Justizbeamten aus Dresden steht auch fest, dass dieser es war, der den Haftbefehl zuerst fotografiert hat und dann an andere weiter gesandt hat.
Für die Strafverfolgungsbehörden ist damit die Tat relativ deutlich und relativ klar ermittelt. Auf solche Detailfragen wie zum Beispiel die Frage, um welche Uhrzeit wurde der Haftbefehl nun von wem und wann auf Facebook gepostet, kommt es für die Strafbarkeit überhaupt nicht mehr an.
Die Durchsuchungen in den Geschäftsräumen des Strafverteidigers und in den Räumen von Chemnitz e.V. können keinerlei neue Informationen zu diesem Sachverhalt bringen. Was glaubt die Staatsanwaltschaft, nun noch erfahren zu können?
Möglicherweise natürlich interessieren sich Staatsanwälte durchaus dafür, was sie auf den Handys auf den Computern und auf den sonstigen Datenträgern der „unliebsamen“ oder kritisch gewordenen Mitglieder unserer Gesellschaft finden könnten. Dies ist aber illegal.
Das Ziel, über einen sogenannten „Beifang“ mehr Informationen zu bekommen als der Staatsanwaltschaft eigentlich im Rahmen ihres Ermittlungsverfahrens zustehen würden, ist offensichtlich. Leider ist es mittlerweile gängige Praxis, wie die Durchsuchungen bei Dynamofans gezeigt haben, die in umstrittener Weise gegen den DFB protestiert hatten. Auch hier hat man sich gefragt, was die Staatsanwaltschaft noch ermitteln wolle, wenn sowohl der Täter als solcher als auch seine Teilnahme bei dem umstrittenen Fanmarsch bereits feststehen.
Was sollen solche Durchsuchungen also dann, wenn sie ermittlungstaktisch sinnlos sind? Sie sollen Angst schüren.
Die römische Göttin der Gerechtigkeit soll also in Chemnitz nicht mehr abwägen und urteilen und erst danach richten. Nein, die Chemnitzer Justitia schwingt das scharfe Schwert bereits zur Abschreckung. Die Götter des Olymp dürften empört sein, aber sie sollten ihre Empörung lieber für sich behalten. Sonst droht ihnen womöglich eine Hausdurchsuchung.