Von Parviz Amoghli
2018 ist ein Jahr voller Jubiläen. Vom Beginn des Dreißigjährigen und dem Ende des Ersten Weltkrieges über „Reichskristallnacht“, Währungsreform und Berlin Blockade bis hin zu Achtundsechzig. Das Gedenkritual, das dabei zur Anwendung kommt, ist stets dasselbe. Rückt ein Jahrestag näher, beginnt die mediale Vorbereitung. Das Publikum soll informiert und für das Thema sensibilisiert werden. In der Berliner Republik bedeutet dies gewöhnlich, Geschichte soweit zu klittern, bis sie ins bunt-deutsche Weltbild passt. Deutlich wird das sobald Politiker und willfährige Intellektuelle auf dem Höhepunkt des verordneten Erinnerns, üblicherweise irgendeine Zentralveranstaltung an bedeutungsschwerem Ort, mit gesenkten Häuptern und zerfurchten Stirnen vor ihresgleichen treten und ihre Lehre aus der Historie präsentieren. Und die lautet in der Regel: in Angela Merkel erfüllt sich die deutsche Geschichte. Ist das erledigt, verschwindet das Thema wieder aus den bunten Blättern des bunten Deutschlands.
Voraussetzung für derartige, genauso billige wie unwürdige Propaganda Spektakel ist die Frage, inwieweit sich ein Ereignis und seine Folgen historisieren lassen. Das wäre zumindest eine Erklärung dafür, warum der offiziöse bunt-deutsche Gedenkreigen zwar an das Jahr 1968 erinnert, nicht aber an 1998. Die Studenten- und Jugendproteste vor fünfzig Jahren sind Teil der Bonner Republik. Ihre Geschichte endet in dem Augenblick, als aus den Revoltierenden Regierende werden, und diese nach dreißigjährigem „Marsch durch die Institutionen“ 1998 eine neue Republik ausrufen. Seither leben wir in der Berliner Republik und die ist noch nicht so alt, als dass der Moment ihrer Ausrufung aus der Distanz, einigermaßen leidenschaftslos und nüchtern betrachtet werden kann.
Spätere Historikergenerationen werden dieses Problem nicht haben. Sie werden mit Abstand und in dem Wissen, ob wir Heutigen uns auf dem Weg zu neuen zivilisatorischen Gipfeln befinden oder doch nur unterwegs sind zu der nächsten Talsohle, auf das frühe 21. Jahrhundert zurückblicken und Erklärungen suchen für die geschichtliche Entwicklung. Gut möglich, dass sie dabei zu dem Schluss kommen werden, dass das Zeitalter nach dem Kalten Krieg nicht, wie derzeit noch kolportiert, mit den Anschlägen vom 11.September 2001 beginnt, sondern bereits 1998. Gründe dafür gibt es jedenfalls genug. In diesem Jahr werden die Grundlagen für die Gegenwart gelegt, es ist der Referenzpunkt für die momentan herrschenden Zustände und Verhältnisse in der Bundesrepublik.
Da ist zum Beispiel die globale Vernetzung. Seit 1998 schrumpft die Welt endgültig zu einem Dorf. Verantwortlich dafür ist unter anderem die in diesem Jahr erfolgte Inbetriebnahme des unterseeischen Glasfaserkabels Atlantic Crossing 1, kurz AC-1, das bis dahin ungekannte Übertragungskapazitäten ermöglicht. Wie der Name schon sagt, quert es den Atlantischen Ozean und verbindet die USA mit Europa. Damit ist es das wichtigste Teilstück von FLAG (Fibreoptic Link around the Globe), jenem globusumspannenden Netz von Unterseekabeln, das kein geringeres Ziel anstrebt, „als die Aufhebung der Ferne“ (DER SPIEGEL 19/1997). Zwanzig Jahre später lässt sich mit Fug und Recht feststellen: es ist gelungen, das Ziel ist erreicht. Die Grenzenlosigkeit des World Wide Web hat alle Lebensbereiche revolutioniert. Im Guten wie im Schlechten. Symbol dieser Dualität ist der scheinbar allgegenwärtige Digitalkonzern Alphabet/Google, der ebenfalls 1998 gegründet wurde.
Währenddessen erscheinen im gleichen Jahr Osama bin Laden und mit ihm der neu erwachte militante Islam auf der Weltbühne. Am 7.August 1998 explodieren vor den US-Botschaften in Nairobi und Daressalam zwei mit Sprengstoff bepackte Fahrzeuge. Insgesamt werden mehr als zweihundertzwanzig Menschen getötet, annähernd fünftausend werden verletzt. Diese Anschläge stehen ähnlich wie der Angriff auf den US Zerstörer USS Cole fast auf den Tag genau zwei Jahre später, am 8.August 2000, bis heute im Schatten von 9/11. Dennoch sind sie es, die den Ausgangspunkt für den neuen globalen Generationenkonflikt markieren. Mit ihnen tritt acht Jahre nach der Wende die islamisch-militante Herausforderung an die Stelle der sowjetischen. Von da an droht nicht mehr der atomare Overkill, sondern die Versklavung der Menschen im Namen Allahs.
Das vorläufige Ergebnis ist bekannt. Der radikale bis militante Islam befindet sich trotz aller militärischen Rückschläge in der Offensive und stellt derzeit eine weit größere Bedrohung für die Freiheit eines jeden Einzelnen dar, als es der sowjetische Imperialismus jemals gewesen ist.
Die Frage nach dem Warum? führt zum dritten Ereignis, welches das Jahr 1998 insbesondere für die Bundesrepublik zum historischen Wendepunkt qualifiziert: der Wahl der ersten rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer am 27.September. Damit erreicht der Generationenwechsel, der sich ab Mitte der 1990er Jahre in der europäischen Politik vollzieht, seinen Höhepunkt. Das 68er Projekt „Berliner Republik“ kann beginnen. Etwas überspitzt ließe sich in der Rückschau formulieren, dass an diesem Septembertag der beste Verbündete des militanten Islam die Regierungsgeschäfte in Deutschland übernimmt. Ein Zeitgeist nämlich, der jede Form der Selbstbehauptung systematisch aushöhlt und damit im Innern das Geschäft der Angreifer von außen betreibt.
Im September 1998 ist davon allerdings noch nichts spüren. Gewiss, das „Deutschland verrecke“ und „Nie wieder Deutschland“ Geschrei derer, die ihre Träume seit 2015 verwirklicht sehen, ist schon damals gut vernehmbar. In der Erleichterung über die Abwahl von Helmut Kohl und den neuen, frischen Wind in der Bundespolitik, findet es jedoch bestenfalls als das Getöse von Sektierern Beachtung. Das wird sich schon wieder legen, so der Glaube, der Regierungsalltag hat noch jeden Heißsporn kleingekriegt.
Tatsächlich scheint es zunächst auch so, als würden jene, die es auf eine schlagartige Dekonstruktion der verhassten Verhältnisse hierzulande abgesehen haben, unter Gerhard Schröder an den Rand gedrängt, Stichwort: „Familie und das ganze Gedöns“. Außerdem lässt ihnen die Agenda 2010, die in diesen Tagen die Schlagzeilen und Innenpolitik beherrscht, nur wenig Raum. Den wissen sie allerdings weidlich zu nutzen. Exemplarisch dafür sei hier der so genannte Volmer- bzw. Fischer-Erlass vom März 2000 angeführt. Dieser, ohne jede Absprache mit anderen Ministerien ergangene Erlass aus dem Außenamt ordnet die erleichterte Visavergabe an Ukrainer in der deutschen Botschaft in Kiew an. Ein Vorgang, den die EU Kommission als Verstoß gegen das Schengen Abkommen und das Landgericht Köln vier Jahre später als kalten „Putsch gegen die bestehende Gesetzeslage“ werten wird. Zwar bleiben diese Feststellungen für die Verantwortlichen folgenlos. Auf ihre Anhängerschaft in den Amts- und Redaktionsstuben können sich die rot-grünen Projektleiter der Berliner Republik von Beginn an verlassen. Jedoch gilt es zu konstatieren, dass der strittige Erlass nach Bekanntwerden 2004 wieder kassiert wird und sich Fischer und Komplizen im Bundestag einer durchaus emotionalen Debatte sowie einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu stellen haben. Das ist beileibe nicht viel, aber immer noch weit mehr, als man sich heute mit Blick auf Flüchtlingspolitik der Regierung erhoffen kann. Mit Lächerlichkeiten wie der Vermutung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, dass „die pauschale und massenhafte Einreisegestattung nicht mehr vom § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG gedeckt sein könnte“ oder der Bemerkung des Oberlandesgerichts Koblenz, wonach „die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik … seit rund eineinhalb Jahren außer Kraft gesetzt (ist)…und die illegale Einreise ins Bundesgebiet…momentan de facto nicht mehr strafrechtlich verfolgt (wird)“ – mit solchen Petitessen gibt man sich in der inzwischen fest verankerten Berliner Republik gar nicht mehr ab. Dafür ist die Transformation des Rechtsstaates in einen Bewegungs- und Gesinnungsstaat, schon zu weit fortgeschritten. Im buntesten Deutschland aller Zeiten entscheidet endgültig das dumpfe Bauchgefühl infantiler Hypermoralisten über die Durchsetzung von Recht und Gesetz. Und das wiederum ist bekanntlich abhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft, Religionszugehörigkeit und/oder Gesinnung. Wenn die Voraussetzungen stimmen, können es Verbrecher in der Bunten Republik zu Helden samt Denkmal bringen. Wo das nicht geht, womöglich weil die Notwehrtat gegen die männlich-weiße Unkultur, doch zu brutal ist, kann ein passender Angeklagter in der Regel auf milde Richter*innen rechnen. Niemand will seine Karriere aufs Spiel setzen indem er/sie/es mögliche Strafrahmen ausschöpft. Das geht nur bei widerborstigen „Kartoffeln“.
Was für die Flüchtlingspolitik der Berliner Republik gilt, lässt sich problemlos auf alle anderen Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens anno 2018 ausweiten. Ganz gleich ob Geschlechterfrage, Auswärtige Angelegenheiten, Bildung, Verteidigung, Wohnungsbau oder Verkehr – überall dasselbe Bild. Die üble Saat vom September 1998 ist aufgegangen und es steht zu befürchten, dass sie so schnell auch nicht wieder vergehen wird. Die erste Generation von jungen Menschen, die flächendeckend und gemäß den bunten Dogmen erzogen und geformt worden sind, ist inzwischen erwachsen geworden. Wie sie ticken, offenbart der Blick auf die Studentenvertretungen an deutschen Universitäten. Ihnen geht es nicht um Forschung oder den produktiven, ungehinderten Austausch von Meinungen. Stattdessen schicken sie sich an, den ehemaligen Ort freier Debatte und Diskussion, wenn es sein muss mit Gewalt und ganz im Sinne der bunten Eliten, in einen ideologischen Reinstraum zu verwandeln.
Ob es ihnen und ihren Mentoren gelingen wird, oder ob die Regierenden in ihrem Feldzug gegen die Regierten doch noch rechtzeitig aufgehalten werden können, wird sich zeigen. Doch ganz gleich wie es ausgeht, Gründe, sich an das Jahr 1998 zu erinnern, gibt es reichlich. Je nachdem welchem Lager man sich zugehörig fühlt, kann man es feiern oder betrauern, nur ignorieren sollte man es nicht.
Vom Autor zuletzt erschienen: „Siegen – oder vom Verlust der Selbstbehauptung“, Parviz Amoghli, Alexander Meschnig, 2017, Band 5 der „Werkreihe TUMULT“