FDP: Auferstanden von den Toten

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Von Gastautor Rainer Zitelmannn

Am 25. Oktober 2017 erschien unter dem Titel “Schattenjahre: Die Rückkehr des politischen Liberalismus” Christian Lindners Buch über die dramatischen Ereignisse, die zum Scheitern der FDP und schließlich zum Wiedereinzug in den Bundestag führten, aus dem im nachfolgenden Beitrag jeweils mit Seitenangabe zitiert werden wird.
Die Wahlniederlage von 2013, bei der die FDP zwei Drittel ihrer Wähler verlor und an der 5-Prozent-Hürde scheiterte, markierte noch lange nicht den Tiefpunkt in der Geschichte der Liberalen. Schon 2011 hatte Lindners heutiger Stellvertreter Wolfgang Kubicki erklärt, die Marke FDP habe „generell verschissen“ (S. 124). Damit sprach er aus, was nach 2010 immer mehr Menschen dachten. Schon vor der Schicksalswahl wurde die Partei nicht mehr ernstgenommen – beim Bundespresseball 2013 wurde einer ihrer Bundesminister an einem Tisch am äußersten Rand neben dem mongolischen Botschafter platziert (S. 69).
„Keine Sau braucht die FDP“. Beim Bundesparteitag 2014 in Dresden waren die Ränge leer und viele Medien verzichteten sogar darauf, Berichterstatter zu schicken. „Die Stimmung in der Partei war – so fühlte auch ich es – schauderhaft.“ (S. 107) Im Herbst 2014 führten führende Meinungsforschungsinstitute die FDP nicht einmal mehr als gesonderte Partei bei Umfragen auf. Sie verschwand neben den Violetten, der Bayernpartei und der Partei für Gesundheitsforschung unter den „Sonstigen“ (S. 142), also bei den unbedeutenden und chancenlosen Splitterparteien. Die Schulden der Partei hatten sich auf fast zehn Millionen Euro aufgetürmt (S. 29). Bei den Landtagswahlen plakatierte die Partei zum Entsetzen der Partei in ganz Brandenburg „Keine Sau braucht die FDP“ (S. 151), was sie damit begründete, dies gebe am besten die Stimmungslage wider. Das Ergebnis von 1,8 Prozent schien ihr Recht zu geben (S. 152). Der Spitzenkandidat verließ daraufhin die FDP und schloss sich der Linkspartei an (S. 153). Christian Lindner sprach inzwischen bei Grillfesten, an denen 20 Parteimitglieder teilnahmen. „Es war zu spüren: Wer jetzt noch zu den Freien Demokraten kam, der musste Überzeugungstäter sein.“ (S. 177). Sein Buch endet mit dem Wiedereinzug der FDP in den Bundestag bei der Bundestagswahl vom 24. September 2017 mit 10,7 Prozent. Wie es zu diesem Wiederaufstieg der von den Medien verlachten und totgesagten Partei kam – diese Geschichte erzählt Lindner auf 338 Seiten.
„Das waren wir schon selbst“.
„Jedem Besiegten wird es schwer, den Grund seiner Niederlage an der einzig richtigen Stelle, nämlich in sich selbst zu suchen“, schrieb Theodor Fontane. Das könnte auch das Leitmotto von Lindners Buch sein, das in mancher Hinsicht vielen Erfolgsbüchern ähnelt, in denen betont wird, wie entscheidend wichtig mentale Faktoren im Umgang mit Niederlagen sind. Nach einer Niederlage neigen die meisten Menschen – und Politiker sowieso – dazu, die Schuld anderen zu geben. Auch unter dem Führungspersonal der FDP gab es manche, die glaubten, dass die Partei nur historisches Unrecht erlitten hätte, weil die Wähler sie einfach nicht hätten verstehen wollen (S. 135). Andere gaben Merkel die Schuld, die bekanntlich bislang jeden Koalitionspartner klein gemacht und an die Wand gedrückt hat. Eine Ursache dafür, dass die FDP den Wiederaufstieg schaffte, war, dass Lindner der Versuchung widerstand, die Schuld bei anderen zu suchen. „Das waren wir schon selbst… Die Partei der Selbstverantwortung sollte Schuld nicht bei anderen suchen. Denn wenn andere über das Schicksal tatsächlich bestimmen würden, wäre man machtlos.“ (S. 102) 
Interessant ist, dass ich genau diese Einstellung zu Niederlagen in meiner Dissertation über erfolgreiche Selfmade-Unternehmer als wichtige mentale Einstellung identifiziert habe: Verlierertypen suchen die Schuld für Niederlagen bei anderen, Gewinnertypen bei sich selbst. 2013 war in einigen Medien eine Karikatur erschienen, die fünf FDP-Politiker zeigte (einer davon Lindner), die einander der Reihe nach einen Dolch in den Rücken stechen. Darunter stand: „Fest vereint in den Bundestagswahlkampf“. Lindner zeigte das Bild bei mehreren Parteiveranstaltungen und kommentierte: „Nicht die anderen haben die FDP besiegt, wir haben uns selbst ruiniert.“ (S. 126)
Die Krise als Chance. Eine andere Einstellung, die ich in meiner Dissertation bei erfolgreichen Unternehmern und Investoren gefunden habe, ist die, dass sie auch in größten Niederlagen Chancen sahen. So war dies auch bei Lindner: „Die Wähler“, so seine Einstellung, „hatten uns einen kompletten Erneuerungsprozess verordnet. Das Gute daran war: Wir mussten uns nicht mehr fragen, was bei der Kanzlerin, bei führenden Kommentatoren oder bei bestimmten Interessenvertretern ankam. Wir sollten nur noch etwas vertreten, wenn wir auch mit Überzeugung und gegen allen Widerspruch dahinterstehen könnten. Das war eine Selbstbefreiung.“ (S. 35). In dem Scheitern liegt etwas Positives – diese Botschaft verkündete Lindner vor Start-Ups und Unternehmern so oft, dass er schließlich zum „Schutzheiligen der Gescheiterten“ wurde (S. 162). Aber nicht jener Gescheiterten, die die Schuld bei der Gesellschaft, den Märkten usw. suchen, sondern bei sich selbst. Und für die Misserfolg kein Makel ist, „sondern ein selbstverständlicher Teil des Wirtschaftslebens“ (S. 162) – und eben auch des politischen Lebens. Über eine Million mal geklickt wurde Lindners „Wutrede“ bei der Landtagssitzung in NRW Ende Januar 2015, als er auf einen höhnischen Zwischenruf eines Sozialdemokraten, der daran erinnerte, dass Lindner auch mal eine Firma in den Sand gesetzt hatte, ausrastete und seine Wut herausließ (S. 157 ff.).
Fehler sind gut: „Das Bekenntnis der eigenen Fehler wirkt wie ein Besen. Der Besen fegt den Dreck weg, ein Bekenntnis tut nichts weniger“ – dieser Spruch stammt von Mahatma Gandhi. Lindner plädiert in seinem Buch für mehr Fehlertoleranz. „Sie ist in Deutschland unterentwickelt. Dabei ist menschliches Handeln immer fehlerhaft. Gerade die Politik krankt am Unvermögen, Fehler einzugestehen und zu korrigieren.“ (S. 166) Lindner spart in dem Buch nicht mit Selbstkritik, so wenn er zustimmend einen Kommentator der „Süddeutschen Zeitung“ zitiert, der über seine Rede beim Dreikönigstreffen in Stuttgart schrieb: „… seine Worte plätscherten schlapp dahin. Schon bald stellte sich bei den Zuhörern der Eindruck ein: Genug jetzt mit der FDP, besser schnell ab nach Hause!“ Lindner kommentiert den Kommentar: „Recht hatte er… Meine Rede war allerdings wirklich zum Fremdschämen langweilig.“ (S. 105) Und über seine Rede beim Bundesparteitag 2014 berichtet er, dass eine Parteifreundin, die in der ersten Reihe saß, einschlief: „Zum Glück ahnte das Publikum nicht, dass es noch eine weitere halbe Stunde vor sich haben würde.“ (S. 108) Manchmal, so Lindner, verkündete er in der Krisenzeit nur „Durchhalteparolen“ (S. 113). Selbstkritik sei etwas Wesentliches, gerade für eine liberale Partei, für die Lernbereitschaft essentiell sei und zu ihrem politischen Glaubensbekenntnis gehöre (S. 311).
Flüchtlingspolitik. 
Unzweifelhaft wäre der Wiederaufstieg der FDP ohne Lindner nicht gelungen. Das schreibt er so nicht, aber das würden ihm auch seine Gegner zugestehen. Aber der Wiederaufstieg wäre auch ohne Merkels Politik schwerer gewesen, denn sie trieb viele Wähler nicht nur in die Arme der AfD, sondern auch in die der FDP. Zuerst hat Merkel die CDU sozialdemokratisiert – mit Mindestlohn, Mietpreisbremse, Quotenregelungen usw. -, dann hat sie mit der Politik der Grenzöffnung viele Menschen vor den Kopf gestoßen. Lindner zeigt, wie er im Wahlkampf Merkels Flüchtlingspolitik scharf kritisierte, und dies trug sicherlich auch zum Erfolg der FDP bei, denn nicht jeder Merkel-Kritiker wollte AfD wählen. Lindner räumt selbstkritisch ein, es wäre richtig gewesen, „diese Flüchtlingspolitik noch früher und noch schärfer“ zu kritisieren. Die Bundesregierung habe die Kontrolle über die Lage verloren, orientierungslos agiert und Deutschland von seinen europäischen Partnern isoliert (S. 205).„Weltweite Freizügigkeit als Menschenrecht“ – diese Einstellung entspräche einer Gesinnungsethik, die zum Zusammenbruch jeder Ordnung führen müsse. Lindner spricht von einem „bis dato für mich nicht vorstellbaren staatlichen Organisationsversagen“. „Die Kapazitäten für die Aufnahme sind objektiv begrenzt, wenn man Menschen wirklich gerecht werden will. Mit der Aufhebung des Dublin-Abkommens trat Europa in einen Zustand der Regellosigkeit ein, der noch immer nicht überwunden ist.“ (S. 206) Die Bundesregierung, so kritisiert Lindner, habe „aus dem Asylrecht einen allgemeinen Einwanderungsparagrafen gemacht“ (S. 207). Er begrüßt daher die Initiative von Emmanuel Macron, „die Mittelmeerroute der Schlepperkriminalität zu schließen, um stattdessen unter dem Dach der Vereinten Nationen in Afrika Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge zu schaffen“ (S. 227).

Angst vor „rechter“ Positionierung. 
Lindner schreibt, die „Furcht vor dem Urteil anderer“ habe der FDP die „Unabhängigkeit im Urteil“ genommen (S. 35). Zu Recht kritisiert er, wie übergroß das – nach all den Anfeindungen in den Medien verständliche – Bedürfnis der Partei war, wieder als „sympathisch“ wahrgenommen zu werden (S. 111). Es gehört zu seinen Verdiensten, dass er sich dezidiert dagegen wandte, die Partei und ihre Stellungnahmen danach auszurichten, dass sie vor allem „sympathisch“ erscheinen solle. Doch von der Furcht vor dem Urteil der politisch Korrekten ist auch Lindner selbst nicht frei. Etwas verkrampft wirkt sein Bestreben, dass die FDP um jeden Preis als Partei der „Mitte“ wahrgenommen werden müsse. „Aus der Sache heraus ergab sich, dass wir in der Mitte positioniert waren – zwischen dem großen Konsens von CDU, SPD, Grünen und Linkspartei einerseits und andererseits in Abgrenzung zu CSU und vor allem AfD.“ (S. 233 f.) Die Abgrenzung von der CSU in der Flüchtlingspolitik wirkt künstlich, denn die Unterschiede zu Lindners Positionen sind marginal. Und: Einerseits wendet sich Lindner zu Recht gegen die Intoleranz von Grünen und Linken und betont, wie wichtig der Respekt vor dem Andersdenkenden sei. Die Linke, aber auch die AfD nimmt er jedoch ausdrücklich davon aus (S. 312 f.). So lehnte er es sogar ab, auch nur über den Vorschlag eines Unternehmers zu sprechen, liberal denkenden Menschen, die sich von der AfD abgespalten hatten (wie etwa die Gruppe um Hans-Olaf Henkel und Joachim Starbatty) in der liberalen Fraktion im Europaparlament eine politische Heimat zu bieten (S. 220), während er gleichzeitig stolz verkündet, die FDP habe mehrere führende Mitglieder der Piratenpartei aufgenommen (S. 240). Obwohl Lindner „German Mut“ als Parole ausgab, schwingt zwischen den Zeilen immer wieder die Angst mit, der politische Gegner könne seine Positionen als „rechtspopulistisch“ diffamieren. Ein Papier eines liberalen Mitstreiters, das sich dezidiert gegen religiösen Extremismus und für eine Begrenzung der Zuwanderung aussprach, nennt er „für die Freien Demokraten gefährlich“ (S. 213). Abwegig ist auch seine Kritik, dass die Positionen eines Frank Schäffler „schlimmstenfalls die Idee der europäischen Einigung aufs Spiel setzen würde“ (S. 73). Immerhin erhielt Schäffler bei dem von ihm initiierten Mitgliederentscheid gegen die sogenannte Euro-Rettungspolitik über 44 Prozent der Stimmen der FDP-Mitglieder und auch viele Wähler der FDP denken so. 
Lindner schreibt zu Recht: „Parteien benötigen die Bandbreite unterschiedlicher Temperamente und Themen, um sich zu entwickeln und dauerhaft erfolgreich zu sein. Das gilt gerade auch für die liberalen Individualisten unter den Wählerinnen und Wählern, denen ein personelles Spektrum zur Identifikation gegenüberstehen muss… Alles andere widerspräche auch dem Gebot innerparteilicher Demokratie.“ (S. 258) Richtig! Aber was hat Lindner getan, um Personen in der FDP zu fördern, die dezidiert kritisch zur Euro-Rettungspolitik stehen oder für die Themen wie die Kritik an der „Gender-Ideologie“ oder an der „Political Correctness“ wichtig sind? Dabei sind die Kritik am Egalitarismus und das konsequente Eintreten für die geistige Freiheit urliberale Themen, die – neben dem Bekenntnis zur Marktwirtschaft und der Kritik am ausufernden Wohlfahrtsstaat – beispielsweise der Grund sind, warum ich seit 23 Jahren dieser Partei angehöre. Solche Themen sind nicht deshalb anrüchig, weil die AfD sie aufgreift. Wenn die FDP diese Themen vernachlässigt und kein personelles Angebot für Wähler hat, denen sie wichtig sind, werden sich manche enttäuscht abwenden, die die Partei jetzt vielleicht wegen Lindners Kritik an der Flüchtlingspolitik gewählt haben. Lindner beruft sich auf eine einzige Umfrage, die eine maximale Ferne zwischen AfD- und FDP-Wählern belege (S. 219), aber es gibt andere Umfragen renommierter Institute, die zeigen, dass die Positionen von FDP- und AfD-Wählern insbesondere in der Flüchtlingspolitik so nahe beieinander sind wie zwischen den Wählern keiner anderen Parteien. Überheblich wirkt es, wenn Lindner schreibt, er habe niemandem eine Träne nachgeweint, der die FDP verlassen habe, um sich der AfD anzuschließen (S. 218). Die Auseinandersetzung mit der AfD, die auch ich in vielen Punkten kritisch sehe, wirkt in Lindners Buch oft grobschlächtig und lässt die Differenzierung vermissen, die man beispielsweise findet, wenn er über die Grünen schreibt.
Retter oder Totengräber? 
All das passt nicht zu dem, was Lindner zu Recht als essentiell betont: „Zu oft wird übersehen, dass Fortschritt gerade aus der Abweichung von der gesellschaftlichen Norm erwächst. Innovation und gesellschaftlicher Wandel entstehen auch von den Rändern her, nicht nur aus der Masse in der Mitte.“ (S. 119) Lindner schreibt, er würde es begrüßen, wenn es ein „Markenzeichen der FDP werden könnte, starke Köpfe aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur in politische Verantwortung zu bringen“ (S. 303). Man wird Lindner und die FDP daran messen, ob diesen Worten Taten folgen. Und für die Zukunft der Partei wird entscheidend sein, ob er das einlöst, was er auf Seite 87 f. schreibt: „Die FDP will gestalten, sie ist fähig zum Kompromiss. Aber Fehler wie in den Jahren 2009 und 2010 dürfen sich nicht wiederholen. Es gibt eine Grenze, ab der die politische Glaubwürdigkeit Schaden nimmt: Wenn sie überschritten wird, dann ist es besser, von Bord zu gehen.“ Das sollte nun auch für die Jamaika-Verhandlungen gelten. Lindner hat sich große Verdienste um den Wiederaufstieg der FDP erworben, der vor allem sein Werk war. Die Wähler haben der FDP eine zweite Chance gegeben. Wenn sie wieder nicht Wort hält – insbesondere in der Flüchtlings- und Europapolitik, aber auch bei Themen wie Steuern und Wirtschaft – dann wird ihr der Wähler keine dritte Chance mehr geben. Das nächste Buch, das Lindner schreibt, könnte davon handeln, wie er die FDP zur zweitstärksten Partei Deutschlands macht oder davon, wie er durch zu große Nachgiebigkeit gegenüber Merkel und den Grünen vom Retter zum Totengräber der Partei wurde. Manchmal wurde an Lindners Buch kritisiert, dass es autobiografische Teile enthält. Diese Kritik ist abwegig. Lindner ist ein selbstbewusster Mensch, das zeigt sich auch und gerade in seiner Fähigkeit, Kritik anzunehmen und selbstkritisch zu sein. Selbstbewusste Menschen brauchen ihre Verdienste nicht unter den Scheffel zu stellen – warum auch? Barack Obama war 34 Jahre alt, als er seine Autobiografie veröffentlichte. Bis dahin hatte er in einer Anwaltskanzlei gearbeitet und war Uni-Dozent gewesen, das waren keine Leistungen, die es zwingend erscheinen ließen, eine Autobiografie zu verfassen. Er tat es dennoch, weil er eben schon damals selbstbewusst war. Warum soll dann ein 38jähriger, dem es gelang, eine totgesagte Partei wiederzubeleben, kein Buch schreiben, das auch einige autobiografische Elemente enthält?

Christian Linder, Schattenjahre. Die Rückkehr des politischen Liberalismus, Klett-Cotta, München 2017.

 



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