Flucht vor der Debatte?

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Von Gastautor Rüdiger Mai

Als Reaktion auf den am 3.10.2017 in der FAZ erschienenen Artikel „Migranten im eigenen Land“ von Ralph Bollmann schrieb ich an den Herausgeber der FAZ, Holger Steltzner eine offen E-Mail:

„Sehr geehrter Herr Steltzner,

ist der Artikel von Herrn Bollmann der Beitrag der FAZ zur deutschen Einheit? Dann hätte sich die FAZ aus ihrer Tradition gelöst, denn was Herr Bollmann schreibt, ist nicht nur falsch, es ist auch von erschütternder Arroganz. Oder hat Herr Bollmann unter Gefahr für Leib und Leben 1989 in Leipzig, in Dresden, in Halle, in Berlin demonstriert, um Freiheit und Demokratie zu erkämpfen? 

Ich bin kein Freund davon, die ewige Unterscheidung von ostdeutsch und westdeutsch ad infinitum zu verlängern, zumal das Wahlergebnis keine rein ostdeutsche, sondern eine gesamtdeutsche Angelegenheit ist. Aber während den Westdeutschen – und es sei ihnen von Herzen gegönnt – die Demokratie geschenkt wurde, haben sie die Ostdeutschen erkämpft. Sie kamen nicht in den Genuss des Marshall-Planes, sondern mussten der Demontage der Industrieanlagen und deren Abtransport nach Sibirien zusehen. Als sie 1953 den Aufstand wagten, wurde der von Panzerketten niedergewalzt. Ich muss das nicht in Erinnerung rufen. Sie kennen die Geschichte.

Was soll ich nach Bollmanns Artikel machen? Mich als Ostdeutscher empfinden, wo ich in den letzten 27 Jahren das Ossi-Wessi-Gerede immer abgelehnt habe? Mich als “Migrant im eigenen Land“ sehen, als jemand, der noch nicht ganz solange hier lebt oder in Bollmanns Diktion „dabei ist”? „Wobei” eigentlich? Ist die Bundesrepublik ein Verein, bei dem man ist? Mir wird wohl nichts anderes mehr übrig bleiben – das ist das Verdienst der FAZ am Tag der deutschen Einheit. Gratulation!

Der Direktor für Kommunikation und Medien der Erzdiözese Köln Ansgar Mayer twitterte zum Wahlausgang: „Tschechien, wie wär‘s: Wir nehmen Euren Atommüll, Ihr nehmt Sachsen?“ Der SPIEGEL – Journalist Hasnain Kazim «Höre, ich solle Ostdeutsche ‹ernst nehmen›. Ihr kamt 1990 mit dem Trabbi angeknattert und wählt heute AfD – wie soll ich euch ernst nehmen?»

Es ist beschämend, dass sich eine Zeitung wie die FAZ in diese Phalanx stellt. Aber schon in dem Moment, in dem ich das tippe, weiß ich um die Nutzlosigkeit, denn ich vermute, dass Sie über diese Zeilen hinweggehen werden, auf eine Antwort brauche ich nicht zu hoffen, und schon gar nicht auf die Möglichkeit einer Entgegnung, obwohl das mehr als angebracht wäre.

So bedanke ich mich dafür, wieder etwas gelernt zu haben.

Mit freundlichen Grüßen

Klaus-Rüdiger Mai“

Darauf antwortete Ralph Bollmann am 6.10.2017 mit einer mail, die aus meiner Sicht die falschen Grundannahmen seines Artikel verdeutlichten.  Da Herr Bollmann mir bis heute nicht genehmigte, seine Mail zu publizieren, werde ich dies auch nicht tun. Weil es andererseits nicht zu akzeptieren ist, dass man einer Debatte, die man selbst mit einem Artikel provozierte, ausweicht, soll zumindest meine Antwort E-Mail an Herrn Bollmann hier dokumentiert werden, denn das Thema ist zu wichtig, als dass es nicht debattiert wird. Es geht um nicht weniger als um die deutsche Einheit als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts, es geht um Kultur, um Geschichte, Gegenwart und mithin um die Zukunft unserer Kinder. Es geht um Verantwortung. Ich habe Herrn Bollmann folgende Antwort gemailt:

„Sehr geehrter Herr Bollmann,

herzlichen Dank für Ihre Antwort.

Gerade die historische Sichtweise, die Sie in Ihrer Mail ins Spiel bringen, führt Ihre Argumentation ad absurdum: Als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstanden zwei deutsche Staaten, in denen die Deutschen seit 1949 bis zur Wiedervereinigung lebten. Das staatspolitische Ziel der Bundesregierung bestand in der Wiedervereinigung und nicht in der Übersiedlung von 17 Millionen Bürger der DDR in die Bundesrepublik. Und selbst wenn es zu dieser Übersiedlung gekommen und Ostdeutschland zur menschenleeren Wüstenei geworden wäre, ließen sich die Ostdeutschen auch dann nicht als Migranten bezeichnen, weil sie Deutsche sind. Erklären sie einem Franzosen, der von Reims nach Bordeaux zieht, dass er ein ostfranzösischer Migrant sei.

Der alte, 1992 geänderte Paragraph 23 GG hatte ja gerade den Wiedervereinigungs- und nicht den Migrationsfall im Blick. Oder anders: es ging nicht um Einwanderung, sondern um Beitritt weiterer deutscher Länder oder Gebiete („In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“).

Salopp gesagt vergleichen Sie Äpfel mit Birnen. Sie können die Ostdeutschen nicht mit Migranten vergleichen, weil sie keine sind, sie sind auch niemals eingewandert, sondern es fand eine Wiedervereinigung nach Paragraph 23 GG statt. Diesen Weg hatte man aufgrund der schwierigen politischen Situation gewählt. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden, das Provisorium Grundgesetz durch eine neue gemeinsame Verfassung gemäß Art. 146 GG zu ersetzen. Beide Wege wurden damals diskutiert, standen aber unter der Überschrift Vereinigung mit dem Resultat eines Einheitsvertrages und nicht eines Migrationserlasses.

Ich kann es auch auf der Metaebene formulieren, die Sie ansteuern. Meine Kritik richtet sich nicht darauf, dass Sie gleichsetzen, wo sie vergleichen, sie zielt tiefer, nämlich auf die methodische Zulässigkeit, die sich bei der Wahl des tertium comparationis erweist. Dass dieses nicht existiert, belegt die Geschichte ohne Zweifel. Die „Ostdeutschen“ waren keine Migranten, sondern sie hatten ihre Regierung gestürzt und damit den Weg freigemacht zur Wiedervereinigung.

Ihre Sichtweise könnte allenfalls unter soziologischem, nicht aber unter geschichtswissenschaftlichem Aspekt nützlich sein, wenn man „wertfrei“ das Verhalten von Minderheiten und Mehrheiten untersuchen möchte. Aber auch das trägt nichts zum Verständnis bei, denn die AfD bspw. wurde nicht nur im Osten gewählt, sondern auch im Westen, in absoluten Zahlen sogar mehr. Frau Merkel wurde nicht nur im Osten, sondern auch im Westen ausgepfiffen. Die Konstruktion einer Mehrheit „Westdeutsche“ und einer Minderheit „Ostdeutsche“ klingt für mich sehr künstlich. Das ganze ließe sich weiter fundieren. Schließlich ist es soziologisch doch sehr die Frage, ob es nicht am Ende zwischen Thüringern und Franken größere Gemeinsamkeiten gibt als zwischen Thüringern und Mecklenburgern und zwischen Franken und Holsteinern. Sie deuten das an. So dass summa sumarum das soziologische Argument zweifelhaft wird.

Bliebe also unter den wissenschaftlichen Argumenten nur noch das ideologische übrig. Allerdings gehört es zum Wesen des Ideologischen, dass im Zusammenprall von Ideologie und Realität die Ideologie siegt, erst mal, bis alles kippt. Denn eines sind Ideologien ganz und gar nicht: selbstkritisch.

Politisch wäre die Gegenüberstellung Ostdeutsch/Westdeutsch nur wünschenswert im Sinne des römischen Grundsatzes divide et impera, es wäre dies aber ein Argument der Spaltung. Und das würden sowohl Sie, als auch ich verwerfen.

Es wäre doch ein ausgezeichneter Beitrag zur Diskussionskultur, wenn Sie mir in Ihrer Zeitung die Möglichkeit böten, auf Ihren Artikel zu antworten. Der Leser könnte sich ein Bild machen, verschiedene Sichtweisen kämen zur Sprache und es würde einen Beitrag zur Lösung der Probleme insofern leisten, weil es nicht den zweiten vor dem ersten Schritt macht, indem es die Probleme zunächst erst mal versucht, richtig zu analysieren und dadurch auch korrekt zu benennen. In diesem Zusammenhang ist es doch interessant, dass auch Bertelsmann zu dem Schluss kommt, dass die „Frustration“ quer durch die Republik und die Milieus geht.

Darf ich Ihre Antwort auf meine Homepage laden?

Mit freundlichen Grüßen

Klaus-Rüdiger Mai“

 



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