Aus aktuellem Anlass möchte ich noch einmal auf ein Buch von Gila Lustiger hinweisen. Es wird in unseren Medien wenig über die brennenden Vorstädte in Frankreich berichtet. Wenn doch, wie heute im Deutschlandfunk, wird behauptet, die Krawalle wären nicht islamisch, es würden sich auch christliche Einwanderer beteiligen. Gila Lustiger hat in den Pariser Vororten recherchiert. Wer wissen will, was uns bevorsteht, sollte ihr Buch „Erschütterung – Über den Terror“ in die Hand nehmen. Die Tochter des bekannten jüdischen Historikers Arno Lustiger begann nach den Attentaten des 13. November in Paris emsig zu recherchieren, aus „Erschütterung“, wie sie schreibt, um zu verstehen, was in Frankreich vorgeht.
Am 13. November 2015 hatte der islamistische Terror eine neue Qualität erreicht. Es wurden nicht „schuldige“ Karikaturisten angegriffen, wie ein Jahr zuvor beim Überfall auf die Redaktion von „Charly Hebdo“, oder gar Symbole des Kapitalismus, wie die Zwillingstürme von New York. Getötet wurde das normale Ausgehpublikum von Paris: Konzertbesucher, Restaurantgäste, Fußballfans.
Lustiger: „Wenn man so will, ein medialer Geniestreich, äußerst effektiv und noch dazu spottbillig.“ Während ein dreißig Sekunden langer Spot während des amerikanischen Super-Bowl 4,5 Millionen Dollar kostet, genügten den Terroristen „ein bisschen Sprengstoff, ein paar Batterien, und die Schrauben, Bolzen und Nägel, die sie sich in ihre Westen stopften , um die Opferzahl zu erhöhen“. Schon vorher hatte der Islamische Staat mit der Zerstörung antiker Kultstätten, dem Missbrauch andersgläubiger Frauen als Sexsklavinnen, den Enthauptungsvideos und öffentlichen Hinrichtungen es geschafft, in die weltweite Berichterstattung einzuziehen.
„Der IS inszeniert sein Medienbild mittlerweile so geschickt wie Coca Cola, Marlboro, Sony, Nike, Disney oder Mercedes Benz.“ Der IS, so Lustiger, verkauft damit seine „faschistoide, rückwärts gewandte Weltsicht“. Sie analysiert richtig, dass der IS“ die vollständige Umgestaltung von Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft nach einem religiösen „gottgewollten“ Regelwerk anstrebt, also einen Gottesstaat, in dem die westlichen Grundrechte keine Geltung mehr haben“, besteht aber darauf, dass dies keine religiöse, sondern eine politische Agenda sei. Dieser Schluss ist nur damit zu erklären, dass Lustiger den mittlerweile zum Dogma erstarrten Satz, dass der Islamismus nichts mit dem Islam zu tun hätte, als Denkvoraussetzung inkorporiert hat. Lieber spekuliert sie, ob nicht der mediale Erfolg des IS einen Teil seiner Anziehungskraft auf Jugendliche ausmacht. Daran mag etwas Wahres sein. Es würde bedeuten, dass man mit der Berichterstattung über den IS-Terror aufhören müsste.
Vor elf Jahren gab es den IS noch nicht, trotzdem erschütterten wochenlang Jugendkrawalle die französischen Banlieues, die Vorstädte, in denen die Einwanderer nordafrikanischer und schwarzafrikanischer Herkunft leben. Damals waren Schulen, Kindergärten, Bibliotheken, Postämter, Rathäuser und Polizeistationen angegriffen worden. Es brannten nicht nur Mülltonnen, sondern auch Autos.
Lustiger: „Was sie wollten, war, sich einen Taumel zu verschaffen, der von Zerstörung ausgeht…diese Generation protestierte nicht, wollte nichts, suchte nichts, denn sie hatte die Gewissheit, dass sich keiner für sie interessierte.“
Wirklich? Im nächsten Kapitel beschreibt Lustiger selbst den „Marshallplan für die Vororte“. Seit den siebziger Jahren wurden Sportvereine gegründet, Großwohnsiedlungen abgerissen, Bildungsprogramme für Schulabbrecher finanziert, Schreib- und Tanzwerkstätten ins Leben gerufen, Stadtfeste organisiert, Grünanlagen und Spielplätze angelegt, ein Netz von Bibliotheken errichtet, die zum Teil mit Designermöbeln ausgestattet wurden. Von mangelndem Interesse an den Mitbürgern zeugt das nicht gerade. Daneben gibt es viele Franzosen, wie die Nachhilfelehrerin von Lustigers Tochter, die regelmäßig in die Vororte fahren, um dort für die Bewohner tätig zu werden. All das hat offenbar wenig Einfluss auf die Situation. Trotz aller Bemühungen übersteigt die Jugendarbeitslosigkeit in diesen Vierteln häufig die fünfzig Prozent.
Von einer Vernachlässigung durch die Politik kann auch nicht die Rede sein. Allein 2008, so zitiert Lustiger „Le Monde“, wurden die Problemviertel des Départements Seine-Saint-Denis einhundertvierundsiebzig Mal von Ministern besucht. „Wollte man heute vom Staat gefördert werden, polemisierte der Soziologe Dominique Lorrain, so sei es vorteilhaft, jung zu sein, Migrantenkind, in einer Banlieue-Siedlung zu wohnen und von der Gewalt Gebrauch zu machen.“
Man könnte auch schlussfolgern, solche staatliche Förderung führe kaum zum Ziel, oder wäre gar das Problem, denn sie reduziert die Menschen auf Almosenempfänger. In den Nullerjahren rebellierten weniger die in Frankreich geborenen, sondern die frisch nach Frankreich eingewanderten Migrantenkinder. Die Jugendgewalt gibt es in Frankreich nun seit dreißig Jahren. Ein Phänomen ist, dass bei diesen Krawallen keinerlei Forderungen gestellt werden und dass sie bislang immer auf die Vororte beschränkt blieben. Die wohlhabenden Innenstädte blieben verschont.
Vor dem Attentat des 13. November waren die Opfer terroristischer Anschläge meist Juden. Viele davon sind bei uns schon wieder vergessen, wie der Überfall auf eine jüdische Schule im März 2012, dem drei Schüler und ein Lehrer zum Opfer fielen. Im Jahr 2006 hatte es einen grausamen Ritualmord an einem 23-jährigen jüdischen Handyverkäufer gegeben, der von muslimischen Jugendlichen entführt, in einen Keller gesperrt und drei Wochen lang gefoltert wurde, weil die geforderten 450 000 € Lösegeld von der Familie nicht gezahlt werden konnten. Nachbarn und Bekannte des Sozialbaus kamen in den drei Wochen vorbei, um sich die Tortour anzusehen. Keiner benachrichtigte die Polizei.
Diese beiden Vorkommnisse sind nur die Spitze des Eisbergs. Seit Jahren werden orthodoxe Juden auf Frankreichs Straßen angepöbelt, jüdische Kinder in den Vorortschulen gemobbt, jüdische Geschäfte und Einrichtungen beschmiert. Immer mehr Juden verlassen das Land, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen.
Kann Deutschland von Frankreich lernen, fragt Lustiger und gibt die Antwort, ja, das sollte es sogar. Vor allem müssten die Neuankömmlinge als Persönlichkeiten „mit ihrer ganzen Geschichte und Identität“ wahrgenommen werden und nicht als politische Manövriermasse. Sie sind weder „Invasoren“, wie die Rechten sagen, noch eine Art industrielles Ersatzheer für eine alternde Gesellschaft, wie die Linken behaupten. Es sind Menschen die mit viel Energie ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen haben. Diese Energie sollte nicht in Massenunterkünften und durch staatliche Programme lahmgelegt werden.
Vor allem, das ist meine Schlussfolgerung aus der Lektüre von Lustigers Buch, dürfen auf keinen Fall die französischen Banlieues nachgebaut werden, wie das in Berlin mit einem „Flüchtlingsdorf“ für 4500 Menschen geplant ist. Unsere einzige Chance, französischen Verhältnissen zu entgehen ist, die Einwanderer in die Mitte der Gesellschaft zu holen und ihnen zu ermöglichen, sich zügig eigene Existenzen aufzubauen. Diese Lektion muss unsere Politik noch lernen. Lustigers Buch könnte dabei helfen.