von Gastautorin Annette Heinisch
Gemeinschaftsseele? Nein danke!
So manchen von uns beschleicht ja ziemlich regelmäßig, meistens von montags bis sonntags, das Gefühl, ohne Gerichtsverfahren zu einer lebenslänglichen Haft in einem Käfig voller Narren verurteilt worden zu sein. Der Westen, dessen Markenzeichen und ursprüngliches Alleinstellungsmerkmal der Einsatz des Verstandes und der Vernunft war, scheint – in einen Wirrwarr unausgegorener Gefühle verwickelt – Selbstmord auf Raten zu begehen. Sinnbild dieser infantilen, vernunftfreien Zeit ist Greta, ein pubertierendes Mädchen, das dazu aufruft, in Panik zu verfallen und dementsprechend zu handeln. Sie wird dafür gefeiert.
Der „alte weiße Mann“ hingegen, der als Gegenpol sinnbildlich für erwachsenes, rationales Handeln steht, wurde als Feindbild aufgebaut. Der alte weiße Mann ruft typischerweise dazu auf, bei allgemeiner Panik Ruhe zu bewahren, wohlwissend, dass Panik blind macht und Handlungen, die von Panik gekennzeichnet sind, oft mehr Unheil bringen, als sie vermeiden sollen. Ruhe bewahren und das Prinzip „Erst denken, dann handeln“ sind seine Devisen. Damit gibt er dem Verstand zumindest eine faire Chance. Ganz ehrlich: Wenn es in meinem Leben hart auf hart käme, zum Beispiel die Folgen panikblinden Verhaltens beseitigt werden müssten, hoffte ich sehr, alte weiße Männer an meiner Seite zu haben.
Wie konnte es so weit kommen? Kürzlich gab Cora Stephan ein sehr sehenswertes Interview, in dem sie unter anderem kritisiert, dass die Politik offenbar nur noch aus Gefühlen zu bestehen scheint. Gefühle gehörten jedoch ins Wohnzimmer, nicht in die Politik. Auch wenn ich eine Frau bin und damit nach dem Stereotyp der Gläubigen der „Politischen Korrektheit“ nicht für den Verstand, sondern für „das Gefühlige“ zuständig bin, stimme ich ihr voll zu. Sorry an dieser Stelle, dass ich das Klischee der gefühligen Frau nicht so recht bedienen mag, und das, obwohl ich als Kind einen pinkfarbenen Anorak hatte und mit Barbie-Puppen spielte! Aber auch für mich hat alles seine Zeit und seinen Platz.
Im Flugzeug finde ich es zum Beispiel überaus begrüßenswert, dass nicht aus der Menge der Passagiere ein Pilot gewählt wird, der sich zum Führen eines Flugzeugs berufen fühlt, weil er sich für einen Alleskönner hält und schon immer mal gestalten wollte. Es gibt Bereiche, in denen Verstand und Können für den Erfolg entscheidend sind. Kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde sich in ein Flugzeug setzen, wenn er sich nicht darauf verlassen könnte, dass die da vorne im Cockpit wissen, was sie tun, können, was sie tun und nicht lebensmüde sind. Was aber ist, wenn sich eine Flugreise anscheinend unaufhaltsam zu einem Flug Marke „Disast Air“ entwickelt? So kann man sich derzeit in unserem Land fühlen, sicherlich auch manche Briten oder Franzosen in ihrem.
Von der Hochkultur zur Barbarei
Wenn wir die These aufstellen, dass Vernunft, Können und Verantwortungsbewusstsein wesentliche Grundlagen nicht nur des Fliegens, sondern auch guter Regierungsführung sind, wieso hat die Gefühligkeit das Steuer übernommen? Da stellen wir uns mal ganz dumm: Wie funktioniert denn so ein Volk eigentlich? Bereits vor ziemlich vielen Jahren, genau 1895, veröffentlichte Gustave Le Bon das Grundlagenwerk der Sozialpsychologie, die „Psychologie der Massen“. Anlass war die damalige Transformationsphase von der Klassen- zur Massengesellschaft. Le Bon erklärt es so:
„Die organisierten Massen haben zu allen Zeiten eine wichtige Rolle im Völkerleben gespielt, niemals aber in solchem Maße wie heute. Die unbewusste Wirksamkeit der Massen, die an die Stelle der bewussten Tatkraft des einzelnen tritt, bildet ein wesentliches Kennzeichen der Gegenwart […] Je weniger die Masse vernünftiger Überlegung fähig ist, umso mehr ist sie zur Tat geneigt. Die Organisation hat ihre Kraft ins Ungeheure gesteigert.“
Le Bon fragt sich, wohin diese Umwälzung führen möge und ist skeptisch:
“Vielleicht bedeutet der Aufstieg der Massen eine der letzten Etappen der Kulturen des Abendlandes, die Rückkehr zu jenen Zeiten verworrener Anarchie, die stets dem Aufblühen einer neuen Gesellschaft voranzugehen scheinen. Aber wie wäre er zu verhindern? Bisher bestand die Aufgabe der Massen offenbar in diesen großen Zerstörungen der alten Kulturen. Die Geschichte lehrt uns, dass in dem Augenblick, da die moralischen Kräfte, das Rüstzeug einer Gesellschaft, ihre Herrschaft verloren haben, die letzte Auflösung von jenen unbewussten und rohen Massen, welche gut als Barbaren gekennzeichnet werden, herbeigeführt wird. Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen, intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Massen. Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung. Eine Kultur setzt feste Regeln, Zucht, den Übergang des Triebhaften zum Vernünftigen, die Vorausberechnung der Zukunft, überhaupt einen hohen Bildungsgrad voraus – Bedingungen, für welche die sich selbst überlassenen Massen völlig unzugänglich sind.“
Le Bon vertritt die Auffassung, dass der Einzelne, auch der Angehörige einer Hochkultur, unter bestimmten Umständen in der Masse seine Kritikfähigkeit verliert und sich affektiv, zum Teil primitiv-barbarisch, verhält. Damit hat er fast prophetisch die politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts vorausgesehen. Massen übten ihre Wirkungskraft stets unbewusst aus. „Der Gebrauch der Vernunft ist für die Menschen noch zu neu und zu unvollkommen, um die Gesetze des Unbewussten enthüllen zu können und besonders, um es zu ersetzen. Der Anteil des Unbewussten an unseren Handlungen ist ungeheuer und der Anteil der Vernunft sehr klein.“
Verantwortungslosigkeit des Kollektivs
Kein Staatsmann könne die Massen beherrschen, das letzte Hilfsmittel sei zumindest das Verständnis der Massen, um nicht allzu sehr von ihnen beherrscht zu werden. Das ist der Grund für Le Bons empirische Analyse der Massen und ihrer Beweggründe. Er kommt zu folgenden Ergebnissen:
Die Masse ist – wenn organisiert, also nicht nur eine zufällige Ansammlung von Menschen ohne bestimmten Zweck – nicht die Summe der Einzelteile, sondern eine neue, eigene Gesamtheit. Sie ist weder mehr noch weniger als die Gesamtheit der Einzelteile, sie ist etwas anderes. Die bewusste Persönlichkeit der Individuen schwindet und wird ersetzt durch eine Gemeinschaftsseele. Le Bon vergleicht dies mit dem Zusammenfügen von Stoffen in der Chemie, die nach Verschmelzung einen gänzlich anderen Stoff bilden. Durch die Verschmelzung erfolge zunächst eine Durchschnittsbildung:
„Eben die Vergemeinschaftlichung der gewöhnlichen Eigenschaften erklärt uns, warum die Massen niemals Handlungen ausführen können, die besondere Intelligenz beanspruchen.“
Die Masse kann logisch zwingend niemals schlauer sein als die (wenigen) klugen Mitglieder derselben, sondern immer nur dümmer. Zusätzlich zu diesem Aspekt der Durchschnittsbildung bewirken drei Komponenten das Auftreten der spezifischen Eigenart der Gesamtheit: Erstens das Gefühl der unüberwindlichen Macht durch die Menge, wodurch Triebe ausgelebt werden können, die das Individuum zügeln würde, verstärkt durch die Verantwortungslosigkeit des Kollektivs. Zweitens ist durch geistige, hypnoseähnliche Übertragung („contagion mentale“) in der Masse jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar und zwar in so hohem Maße, dass der Einzelne seine Wünsche den Gesamtwünschen opfert und sich alles in eine Richtung bewegt. Drittens weist die Masse eine hohe Beeinflussbarkeit und Leichtgläubigkeit auf. Die Masse hält die vor ihrem inneren Auge durch Worte hervorgerufenen Bilder für wahr und folgt der Täuschung, die sie stets der Wahrheit vorzieht. Le Bon beschreibt umfangreich die Macht der Worte, die – wenn geschickt gewählt – die Massen in eine Art Rausch versetzen können, wobei die Massen stets zu extremen Gefühlsäußerungen neigten, so dass sie zu besonders guten wie schlechten Taten fähig sind.
Massen sind für Logik unempfänglich
Le Bon schildert, dass die Überzeugungen der Massen „stets eine besondere Form aufweisen, die ich nicht besser zu bezeichnen weiß als mit dem Namen religiöses Gefühl.“ Ohne Religion, die keinesfalls zwingend die Anbetung einer Gottheit voraussetzt, sei die Masse nicht zu lenken. Dabei verweist er darauf, dass ganz Gallien, vertreten durch sechzig Städte, Kaiser Augustus einen Tempel bei Lyon errichtete, dessen Priester die führenden Persönlichkeiten des Landes waren. Der römische Kaiser sei wie ein Gott verehrt worden, was erkläre, dass dreißig Legionen des Kaiserreichs hundert Millionen Menschen zum Gehorsam zwingen konnten. Le Bons Fazit: „Für die Massen muss man entweder ein Gott sein oder man ist nichts.“
Was beeinflusst die Masse denn, wodurch wird sie bewegt? Er kommt zu dem verstörenden Ergebnis – Vernunft und Fakten sind es nicht.
„Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer […] Bei der Aufzählung der Faktoren, die imstande sind, die Massenseele zu erregen, können wir uns die Erwähnung der Vernunft ersparen, wenn man nicht den negativen Wert ihres Einflusses aufzeigen müsste. Wir haben bereits festgestellt, dass die Massen durch logische Beweise nicht zu beeinflussen sind und nur grobe Ideenverbindungen begreifen. Daher wenden sich auch die Redner, die Eindruck auf sie zu machen verstehen, an ihr Gefühl und niemals an die Vernunft.“
Bingo! Hier haben wir es nun, das Gefühl. Jemand, der die Massen beeinflussen will, muss mit seinen Worten das Gefühl ansprechen, nicht den Verstand. An diesem Punkt angelangt, empfinde ich plötzlich sehr viel Verständnis für die Masse, denn nichts wäre mir lieber, als mich von diesen Tatsachen, die mir komplett missfallen, abzuwenden. Nicht nur, weil ich persönlich viel von Vernunft halte, sondern vor allem, weil unser gesamtes politisches System auf der These beruht, dass Menschen rational denkende und handelnde Wesen sind. Schon beim Einzelnen scheint das nicht immer der Fall zu sein, wenn es aber bei organisierten Massen nie klappt, Demokratie aber nun einmal auf organisierten Massen beruht, dann haben wir ein Problem. Und zwar ein großes.
Bildungssystem – Erwerb unnützer Kenntnisse
Die Bildung wird nach Le Bon nicht nur in ihrer Wirkung überschätzt, sondern sie trägt zu dem Problem bei, jedenfalls das „lateinische“ Bildungssystem mit seiner Praxisferne. Es sei ein psychologischer Grundirrtum, zu meinen, die Intelligenz entwickle sich durch Auswendiglernen. Urteilsfähigkeit und Entschlusskraft würden so jedoch nicht geübt, diese können nur in der Praxis erworben werden. Die Praxis würde zudem viele „Sonderwahrnehmungen“ bieten, durch die ein Mehr an Lernen durch einen „genauen und lebendigen Begriff von den Dingen, den Menschen und den verschiedenen Umgangsformen“ ermöglicht würde.
Das Bildungssystem sei aber nicht nur nutzlos, es sei schädlich, denn der Erwerb unnützer Kenntnisse sei ein sicheres Mittel, einen Menschen zum Empörer zu machen. Die Schule „erzeugt am Fuße der sozialen Leiter die proletarischen Heere, die mit ihrem Los unzufrieden sind; oben aber unsere leichtfertige, zugleich skeptische und gläubige Bourgeoisie, mit ihrem übertriebenen Vertrauen zur Staatsvorsehung, die sie gleichwohl unaufhörlich beschimpft, weil sie stets ihre eigenen Fehler der Regierung zuschiebt und unfähig ist, ohne die Vermittlung der Obrigkeit etwas zu unternehmen.“
Wohlgemerkt – dies schrieb er nicht gestern, sondern 1895. Über die unbewussten Triebkräfte der Massen, die tatsächlich deren Verhalten erklären, schrieb Le Bon nicht viel. Darüber wisse man zu wenig, sodass man lediglich Vermutungen anstellen könne. Aus seiner Sicht ist eine wesentliche Quelle der Überzeugungen und des Habitus die Rasse, wobei er diese in einem nicht genetischen Sinn definierte, sondern als rein seelisch-geistige Grundhaltung eines Volkes, die aus der Vergemeinschaftung im Zuge der Zivilisations-, Moral- und Kulturentwicklung entstünde und der Überlieferungen, welche die Ideale weitergebe. Daher seien auch verschiedene Massen unterschiedlich geprägt, Begriffe würden unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Als Beispiel nennt er die Begriffe „Demokratie“ und „Sozialismus“, die unterschiedliche Bedeutungen haben:
„Sie entsprechen in Wirklichkeit für die lateinische und die angelsächsische Seele inhaltlich und bildlich völlig entgegengesetzten Vorstellungen. Bei den lateinischen Völkern bedeutet das Wort Demokratie vor allem die Auslöschung des Willens und der Tatkraft des einzelnen vor dem Staat. Dem Staat wird immer mehr aufgeladen, er soll führen, zentralisieren, monopolisieren, fabrizieren. An ihn wenden sich beständig alle Parteien ohne Ausnahme: Radikale, Sozialisten, Monarchisten. Bei den Angelsachsen, namentlich den Amerikanern, bedeutet dasselbe Wort im Gegenteil die angespannteste Entfaltung des Willens und der Persönlichkeit, das mögliche Zurücktreten des Staates, den man mit Ausnahme der Polizei, des Heeres und der diplomatischen Beziehungen nichts leiten lässt, nicht einmal den Unterricht.“
Auch dieses schrieb Le Bon, ohne den Brexit auch nur zu erahnen.
Der Einzelne ist ein Automat geworden
Die vorübergehenden Meinungen der Massen seien leicht veränderbar, die Grundeinstellung jedoch nur schwer. Sie sei durch die Zeit geformt, die allerdings ebenso die Einführung der Glaubenslehren wie auch ihren Untergang vorbereite. Dabei reiche die Erfahrung einer Generation allein nicht aus, weil die nächste sie vergessen habe, zur Veränderung bedürfe es einer Vertiefung. Als wenig bedeutsam sieht er die politischen und sozialen Einrichtungen an, die Folge der Einstellungen seien, quasi aufgeklebte Etiketten, selber aber wenig Rückwirkung hätten.
Da die verbindenden alten Glaubenslehren zunehmend ihre richtungsgebende Kraft verlören, gäbe es Raum für eine Menge Sonderanschauungen ohne Vergangenheit und Zukunft, die sich im Bereich der vorübergehenden Meinungen ausbreiten. Dabei würde die Presse verstärkend wirken, was letztlich zu einer Unfähigkeit der Regierung führen würde, die Meinungen zu lenken.
„Heuzutage haben die Schriftsteller ihren Einfluss eingebüßt, und die Zeitungen spiegeln nur die öffentliche Meinung wider. Und was die Staatsmänner anbelangt, so denken sie nicht daran, sie zu lenken, sondern suchen ihr nur zu folgen. Ihre Furcht vor der öffentlichen Meinung ist fast schon Schrecken und raubt ihrer Haltung jede Festigkeit.“
Die Mittel, mit denen man die Triebkräfte der Massen steuert, beschreibt er nur kurz. Es sei ein Führer nötig, dessen Wirkmittel die Behauptung, Wiederholung und Übertragung seien und der über einen erworbenen oder persönlichen Nimbus verfügen müsse. Sein Fazit zur Massengesellschaft:
„Der einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat. Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab. Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar. Er hat die Unberechenbarkeit, die Heftigkeit, die Wildheit, aber auch die Begeisterung und den Heldenmut ursrpünglicher Wesen, denen er auch durch die Leichtigkeit ähnelt, mit der er sich durch Worte und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verführen lässt, die seine augenscheinlichen Interessen verletzten. In der Masse gleicht er einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sandkörner, das der Wind nach Belieben emporwirbelt.“
So weit war man 1895. Und was machte man mit dem Wissen?
Dieser Artikel ist Teil 1 von 3 einer Serie über Gustave Le Bons “Psychologie der Massen” und erschien zuerst auf der Achse des Guten.
Manipulation der Massen (Teil 1)
Manipulation der Massen (Teil 2)
Manipulation der Massen (Teil 3)