Eine besorgniserregende Journalistin

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von Gastautor Dr. Wolfgang Hintze

Ein Wunder ist geschehen: der Tagesspiegel, die Hauptstadtzeitung, hat in einer sehr wichtigen Frage eine überraschende Wende zur Offenheit vollzogen: Er hat Vera Lengsfeld, der Initiatorin der heftig diskutierten “Gemeinsamen Erklärung 2018” [1] heute (11.04.18) die Gelegenheit zu einer Replik [2] auf einen Artikel von Caroline Fetscher vom Sonntag (08.04.18) [3] gegeben. Lengsfeld und Coautor und Erstunterzeichner Alexander Wendt haben in klaren und überzeugenden Worten dargestellt “Worum es uns bei der “Erklärung 2018″ geht”.

Fetscher dagegen war in ihrem Artikel “Besorgniserregende Bürger”, Untertitel “”Wer die “gemeinsamen Erklärer” sind, die den Petitionsausschuss anrufen.”, maßlos erregt und diffamierend über die Petition von Vera Lengsfeld und deren Unterzeichner hergezogen und hatte dabei die Grenzen des guten Geschmacks und des seriösen Journalismus’ weit überschritten.

Eine ausführliche kritische Kommentierung scheint deshalb angezeigt (Zitate aus Fetschers Artikel sind (kursiv gesetzt).

Vom Sinn einer Petition

Aufs Parlament wollen sie nun losziehen, die Unterzeichner der „Gemeinsamen Erklärung 2018″ von Mitte März. Mit ihrem Verdruss, ihrer Furcht, ihrem Missvergnügen solle sich der Petitionsausschuss befassen, das kündigte Vera Lengsfeld, Initiatorin der „Erklärung”, diese Woche an. Inzwischen hat sie mit Prominenten wie Thilo Sarrazin, Eva Herrman oder Uwe Tellkamp Tausende mehr zum Unterzeichnen animiert.

Besorgt fragt sich der Leser, was Fetscher wohl für die Aufgabe des Petitionsausschusses hält, wenn Bürger “ihrem Verdruss, ihrer Furcht, ihrem Missvergnügen” nicht Ausdruck geben dürfen. Vermutlich hält sie fröhliche Ergebenheitsadressen an die Herrschenden für die der neuen Zeit angemessene Form des Bürgerbegehrens. Motto: “die unbesorgten Bürger schreiben eine Petition”.

Rechtmäßigkeit zweifelhaft

Die gemeinsamen Erklärer „verlangen” eine Kommission, die der Regierung erklären soll, wie der durch „schrankenlose Migration eingetretene Kontrollverlust” beendet, und Hilfe nur noch für „tatsächlich” Verfolgte organisiert werden könne. Für ihr Wunschgremium hoffen sie auf Kräfte wie die Anwältin Seyran Ates oder den Verfassungsrechtler Udo Di Fabio.

Di Fabios Name gilt als Leuchtfeuer der Hoffnung in der neurechten Szene.

Keineswegs nur Udo di Fabio, sondern auch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages [5] oder Experten für Ausländerrecht und Ausländerpolitik [6] zweifeln an der Rechtmäßigkeit von Merkels Entscheidung.

Indes ist es der Regierung trotz allem bisher nicht geglückt zu vermitteln, dass die vorübergehende Grenzöffnung im September 2015 in akutem Notstand dem Schutz von Menschenleben diente.

Vielleicht liegt das einfach daran, dass es nicht stimmte …

Falsche Behauptung unterstellt: die Regierung als solche sei rechtswidrig

Aber Fetscher gibt sich nicht mit Kleckern ab, sie klotzt:

Mittlerweile trommeln ganze Troll-Trupps für die Behauptung, die Regierung als solche sei rechtswidrig.

Wer behauptet denn, dass “die Regierung als solche rechtswidrig” sein soll? Die Petitionisten sicher nicht.

Fetscher glaubte sich von der Wahrheit verabschieden zu müssen, um ihrer Schlussfolgerung mehr Gewicht zu verleihen:

Es sind besorgniserregende Bürger, die erregten Besorgten.

Um die Sache “rund” zu machen, fehlte eigentlich nur noch die Antifa-Lösung “Besorgte Bürger? Entsorgen!”.

Die Erklärung mit Fetschers Worten

Bei der „Erklärung” handelt es sich vermutlich um die ultimative Schwundstufe längerer Entwürfe. Sie lautet: „Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.”

Fetscher fasst den Petitionstext in eigenen Worten zutreffend zusammen:

Für unser Deutschland wird die Wiederherstellung von etwas gefordert, was zuvor ganz war, erst galt das Recht, nun wird es durch Illegales beschädigt.

Unvermeidliches Requisit: die Nazi-Keule

Bei der Nazi-Keule fragt sich bekanntlich nicht ob, sondern wann sie kommt.

Anstatt, wie üblich alle Andersdenkenden kurzerhand Nazis zu nennen, hat Fetscher eine Assoziation herbeigequält, auf die ein normaler Leser wohl kaum gekommen wäre:

Um hellhörig zu werden, muss man beim Begriff „Wiederherstellung” nicht an das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” denken, das 1933 Juden und Oppositionelle aus ihren Posten warf.

Hand aufs Herz: wer wusste, dass “Wiederherstellung” ein Nazi-Wort ist?

In dem bereits erwähnten Expertenpapier [6] beginnt eine Empfehlung mit den Worten “Zur Wiederherstellung wenigstens der formellen Verfassungsgemäßheit der fortdauernden Grenzöffnung in Deutschland”.

Auch Wikipedia hat keine Bedenken:

“Wiederherstellung (zugehöriges Verb wiederherstellen) steht für:
Reparatur, Wieder-Instandsetzung eines defekten Objekts;
Restaurierung, Wiederherstellung eines früheren Zustandes von historischen Kulturobjekten;
Datenwiederherstellung, Korrektur von Datenverlusten oder -fehlern;
Wiederherstellung von naturnahen Lebensräumen, siehe Rekultivierung;”

Hannemann, geh Du voran?

Auffällig ist die implizierte Distanz der Erklärer. Man solidarisiert sich mit denen auf der Straße, läuft aber nicht mit.

Ist das eine frei erfundene Behauptung Fetschers oder Ergebnis ihrer einzelpersonenbezogenen Recherche? Wenn letzteres zutreffen sollte, hat sie mindestens einen Fehler gemacht: Erstunterzeichner Matthias Matussek ist auf einer “Merkel-muss-weg”-Demo in Hamburg nicht nur mitgelaufen, er hat eine flammende Rede gehalten und die Massen zu Sprechchören animiert.

Investigativ oder “Blockwartiv”? Ein kostbares Geschenk, ein Schatz an Datenmaterial

Aber jetzt geht es ans Eingemachte:

Was geht da vor? Auch und gerade zum Beantworten dieser Frage ist die „Gemeinsame Erklärung” ein kostbares Geschenk. Sie holt die Trolle und Grollenden aus ihren verstreuten Nischen ans Licht und liefert der Politik wie der empirischen Sozialwissenschaft einen Schatz an Datenmaterial, der sich anders kaum je hätte heben lassen. Mit der anschwellenden Liste wird, wie einst Negative in der Entwicklerflüssigkeit, ein ganzes, neues Milieu sichtbar, samt Berufen, Lebensläufen, Publikationen, Websites, Aspirationen und Frustrationen.

Auf kostbare Geschenke hatte uns bisher vor allem Katrin Göring-Eckardt aufmerksam gemacht, aber hier ist es ein wenig anders gemeint.

Ja, da kann Fetscher richtig loslegen: finstere nordische Zauberwesen aus ihren Nischen aufscheuchen, Licht ins Dunkel bringen, Schätze aus Datenmaterial herbeischaffen, lang und anschwellend noch dazu, ein ganzes Milieu mit so viel persönlichen Daten, dass selbst Mark Zuckerberg neidisch wird.

Eine gründliche Recherche macht natürlich viel mehr Spaß, wenn es um lebende Personen geht, als bei staubigen Akten, wie etwa den Unterlagen über die zweifelhafte Rechtmäßigkeit von Merkels Grenzöffnung.

Immerhin rund 2000 der nun angeblich 80 000 Unterzeichner tauchen mit Namen auf.

Zur Information: die erste Lengsfeld-Liste, die nach 2018 Einträgen geschlossen wurde, führte Namen und Beruf auf. Sie war auf Autoren, Publizisten, Künstler, Wissenschaftler und andere Akademiker beschränkt worden.

Unvollständige Zahlen oder die Kunst des Weglassens

Hoch ist nicht nur der Anteil Ostdeutscher, sondern auch der Anteil derer, die angeben auf kreativem Terrain tätig zu sein. Es gibt 213 Autoren, 62 Publizisten. 58 Journalisten, 32 Blogger, 22 Übersetzer und 20 Schriftsteller. 53 nennen sich Berater, darunter auch ein „Creative Consultant”, ein älterer Herr der AfD aus Zwickau, „evangelisch-lutherisch im kündigenden Zustand”.

Um die Aussage des “hohen Anteils” der Ostdeutschen zu treffen, und damit ihre Suppe mit der üblichen Prise Fremdenfeindlichkeit gegen Ostdeutsche zu würzen, hätte Fetscher ausreichend viele Einzelbiographien studieren müssen, denn der Wohnort war nicht angegeben, noch weniger der Geburtsort. Gehen wir zu ihren Gunsten davon aus, dass sie eine repräsentative Stichprobe genommen hat.

Über den noch deutlich höheren Anteil der folgenden Berufsgruppen verliert Fetscher kein Wort: 225 Ärzte, 198 Naturwissenschaftler und Mathematiker, 128 Ingenieure, 74 Rechtsanwälte. Diese Gruppen passten ihr irgendwie nicht ins Konzept; ob sie ihnen wohl einfach die Kreativität abspricht?

Stattdessen äußert sie sich abschätzig über die “Berater”, die tatsächlich in der Mehrzahl Steuerberater und Unternehmensberater sind, und die doch eigentlich als recht honorige Berufe gelten …

Indem sie einen AfD-Mann “älterer Herr” nennt, zeigt sie, dass politisch korrekte Gesinnung ein Antidiskriminierungsgesetz locker aussticht.

Aber es kommt noch “besser”

Zu den 38 Künstlern zählt etwa die „Performancekünstlerin” Chris, Produzentin erotischer Fotografie sowie Designerin von „Kindersärgen und Tierurnen”. Ihre Website verspricht: „Der Nagerhimmel ist im Aufbau.”

Hiermit überschreitet Fetscher nun endgültig die Grenzen des guten Geschmacks, indem sie eine Frau diffamiert und herabsetzt, die neben ihrer erfolgreichen künstlerischen Tätigkeit auch umfangreich karitativ tätig ist, etwa Sammlungen veranstaltet zugunsten der internationalen Organisation “Brillen Weltweit” für die Ärmsten der Armen in Afrika, Asien, Südamerika etc.

Fetscher hat damit beweisen, dass ihr Anstand und ein innerer Kompass komplett fehlen. Sie sollte sich schämen und um Entschuldigung bitten – und die Redaktion des Tagesspiegels ebenfalls.

Abwertung von Berufsgruppen

Ein Schuss Bildungsneid scheint Fetscher doch zu überkommen angesichts der 617 Unterzeichner mit Dr.-Titel. Deshalb stürzt sie sich genüsslich auf exotisch klingende Biographien und Berufsbezeichnungen und macht sie nach Kräften als “prekäre Identitäten” verächtlich.

Doch das Kuriose täuscht nirgends hinweg über die Tragik von Bricolage-Biographien, deren Silhouetten sich hier abzeichnen. Berufsbezeichnungen hören sich teils an wie Figuren zu einem modernen Bühnendrama über die Ära der Umbrüche, über hybride Selbstentwürfe und prekäre Identitäten: „Journalist und Planspiel-Coach”, „Diplompädagoge und Major der Reserve”, „Betreiberin eines Videokanals”, „Chansonnier und Bühnenorganisator”, „Werbedesigner und Kunstmaler”, „Honorardozentin und Makroökonomin”, „Lyriker und Aphoristiker”. Oder, solider: „Polizeibeamter und Diplomverwaltungswirt”.

Akademiker, die wahren Sorgenkinder in ihren zerfallenden Milieus

Je mehr der Namen man im Netz antippt, auch solche der Akademiker, desto mehr alarmistisches und idiosynkratisches Material drängt hervor. Denn diese Liste ist ein Symptom, ein Spiegel der fundamentalen Verunsicherung. In ihm sieht man die besorgten Bürger als die wahren Sorgenkinder unserer Republik. Aus heterogenen, zerfallenden Milieus heraus fahnden sie nach Sündenböcken wie „Merkel”, „Islam”, „Euro” oder „ungesicherte Grenzen”, in einer grenzenlos globalen Welt, die real nach mehr internationaler Regulierung ruft. Aber nicht nach Ausgrenzung.

“alarmistisches und idiosynkratisches Material”? Was mag Fetscher meinen? Ist bei ihr ein Zitronenfalter auf einen Löwenzahn geflattert?

“Verunsicherung”? Die Petition tritt ganz sicher auf – denn sie hat fundamentale Probleme erkannt – und verlangt ganz selbstsicher konkrete Änderungen.

“Sorgenkind”? Variante einer uralten Methode: aus dem Boten der schlechten Nachricht über den “Sorgenzustand” des Landes wird flugs ein “Sorgenkind” gemacht.

“Heterogene, zerfallende Milieus”? gibt es eine noch blödsinnigere Beschreibung dieser gebildeten und sozial gesicherten Gruppe der Unterzeichner?

“Sündenböcke”? nein “Versündigung” ist genau der richtige Ausdruck für die Schaffung von “Islam”, Euro” und “ungesicherten Grenzen” durch Merkel! Versündigung an diesem Land und seinem Volk.

“grenzenlos globale Welt”? Hier schließt Fetscher keck von Merkel-Deutschland auf andere Länder und gibt sich ihren Tagträumen hin.

“Aber nicht nach Ausgrenzung”? … sprach die heftige Ausgrenzerin der Petitionisten!

Gegenpetition mit “Vermummung”

Die Unterzeichner der “Akademiker”-Liste der Lengsfeld-Petition treten “mit offenem Visier” auf. Sie geben Name und Beruf öffentlich an, und sie können – wie Fetscher demonstriert hat – im Internet aufgefunden und “ausgewertet” werden.

Anders die Gegenpetition [4]. Sie wurde eingereicht von einer gewissen Petra R.

Besonders “glaubwürdig” klingt deshalb dieser Abschnitt der Gegenpetition:

Wir stehen mit unserem Namen für die freiheitlich demokratische Grundordnung (FDGO), auf der unser Zusammenleben in diesem Staat basiert.

Fazit

Fetschers Artikel muss als Musterbeispiel für den typischen Mainstream-Journalismus in der Merkel-Ära unbedingt für spätere Generationen aufgehoben werden.

Die Tragik von Caroline Fetscher und Mitstreitern des Mainstreams besteht darin, dass sie mit ihren wüsten Tiraden das genaue Gegenteil erreichen werden: die Zahl der Unterzeichner, die jetzt bereits die 110.000 überschritten hat, wird weiter ansteigen.

Anmerkungen

[1] “Gemeinsame Erklärung 2018”, Vera Lengsfeld, 15.03.2018, https://www.erklaerung2018.de/

[2] Gastbeitrag von Vera Lengsfeld, “Worum es uns bei der “Erklärung 2018″ geht”, Tagesspiegel, 11.08.18 13:08, Seite 6 und https://www.tagesspiegel.de/politik/gastbeitrag-von-vera-lengsfeld-worum-es-uns-bei-der-erklaerung-2018-geht/21160780.html

[3] “Besorgniserregende Bürger”, von Caroline Fetscher, Tagesspiegel 08.04.2018, Seite 6, und am 10.04.18 https://www.tagesspiegel.de/politik/sarrazin-tellkamp-herman-unterzeichner-der-erklaerung-2018-sind-besorgnis-erregende-buerger/21151466.html

[4] Gegenerklärung zur Lengsfeld-Erklärung 2018, Petra R., April 2018, https://www.change.org/p/vera-lengsfeld-und-freunde-gegenerklärung-zur-lengsfeld-erklärung-2018

[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article168900336/Gutachten-sieht-unklare-Rechtsgrundlage-fuer-Grenzoeffnung.html

[6] https://vera-lengsfeld.de/wp-content/uploads/2018/04/zar-anlage.pdf Dr. Henning Tabbert, Dr. Andreas Wagenseil, “Die seit 2015 geltende mündlische Ministeranordnung zur Grenzöffnung im Lichte der Gewaltenteilung”, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 11-12/2017



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