Weil sich in diesem Jahr unter anderem der Oktoberputsch der Bolschewiki zum hundertsten Mal jährt, der als Revolution für die Befreiung der Benachteiligten und Unterdrückten verklärt wurde, habe ich „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak gelesen. Dieses Buch ist zur Legende geworden, nicht nur wegen des Oscar-gekrönten Hollywoodfilms, sondern wegen seiner dramatischen Veröffentlichungsgeschichte.
Boris Pasternak ist ein zu großer Schriftsteller, um sich in die Niederungen der Propaganda zu begeben. Er schildert aber die bolschewistische Hölle, die über die Bevölkerung Russlands hereinbrach so drastisch, dass kein Zweifel an seiner Ablehnung, ja seinem Abscheu gegenüber dem Regime aufkommen kann.
Pasternak arbeitete seit Beginn der 1920er Jahre an Texten, die in den späteren Roman einflossen. Erst 1957 war das Werk veröffentlichungsreif. Pasternak bot es Konstantin Fedin für die Literaturzeitung Novyj mir an, schickte aber gleichzeitig ein Exemplar an den italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli. Fedin, obwohl er den Roman als „großen Wurf“ bezeichnete, lehnte die Veröffentlichung ab. Feltrinelli publizierte ihn auf Italienisch und Russisch. In der Folge wurde Pasternak aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und gezwungen, den Literaturnobelpreis abzulehnen. In meiner Ausgabe des Fischer-Taschenbuchverlages ist ein Ausschnitt aus Kindlers Literaturlexikon beigefügt, in dem die Autorin Anja Tipper die Auffassung vertritt, dass die Kampagne gegen Pasternak hauptsächlich wegen seines „ungewöhnlichen Vorgehens“, sein Manuskript in den Westen gegeben zu haben, ausgelöst worden sei. Der Text sei nicht antistalinistisch, weil die Handlung hauptsächlich in der Zeit vor Stalins Machtübernahme spielt, antisowjetische Äußerungen seien kaum zu finden.
Wenn der Roman eins klar macht, dann ist es, dass der Stalinismus keine Pervertierung des Leninismus war, sondern seine brutalisierte Fortsetzung.
Pasternak schildert das Leben in einer sibirischen Kleinstadt, die im Bürgerkrieg mehrmals unter wechselnde Herrschaft der Roten und der Weißen fiel. An Grausamkeit standen sich beide Seiten nichts nach, wobei die Zivilbevölkerung bei den Roten noch mehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Lebensnotwendig war, täglich die immer neuen Dekrete zu studieren, die öffentlich angeschlagen wurden. Ein Verstoß gegen ein Dekret wurde mit dem Tod bestraft, auch wenn man es nicht gekannt haben konnte.
Pasternak lässt seine Hauptheldin Lara, die Geliebte von Schiwago, sagen:
„Ich habe die Zeit erlebt, in der die Begriffe des friedlichen vorigen Jahrhunderts noch wirksam waren. Es war üblich, der Stimme des Verstandes zu vertrauen. Das, was das Gewissen einem sagte, galt als natürlich und notwendig. Der Tod eines Menschen durch die Hand eines anderen war eine Seltenheit… Mord, so nahm man an, gab es nur in Tragödien, Kriminalromanen und auf den Lokalseiten der Zeitungen, nicht aber im gewöhnlichen Leben.
Und nun der Sprung aus dem geruhsamen, unschuldigen Gleichmaß in Blut und Geheul, in allgemeinen Wahnsinn und in die Verrohung durch täglichen und stündlichen, legalisierten und verherrlichten Mord.
So etwas geht nie spurlos vorüber. Du erinnerst Dich…wie schlagartig die allgemeine Zerrüttung einsetzte: Zugverkehr, Versorgung der Städte mit Lebensmitteln, die Grundlagen des Bewusstseins.“
Heute liest man diese Analyse mit einer gewissen Beklemmung, auch wenn es noch nicht den legalisierten Mord gibt. Dafür verbale Hinrichtungen. Hier gibt es Parallelen zur Auflösung der traditionellen Gesellschaft in Russland und heute bei uns:
„Dann beginnt die zweite Periode. Die dunklen Kräfte der Anbiederer, der vorgeblichen Sympathisanten gewinnen die Oberhand. Es kommt zunehmend zu Verdächtigungen, Denunziationen, Intrigen, Hass und Feindschaft.“
Wenn diese Sätze keine vernichtende Kritik am Sowjetsystem sein sollen, hat es keine antisowjetische Kritik gegeben. Wegen der fortgesetzten Verharmlosung der kommunistischen Diktatur ist es möglich, dass wir die „zweite Periode“ des Hasses und der Denunziation gerade wieder erleben. Die Methoden der kommunistischen Diktatoren wurden nie geächtet. Deshalb feiern sie heute unbekümmerte Urständ.
Aber auch den Stalinismus entlarvt Pasternak am Ende seines Romans mit aller gebotenen Schärfe. Er lässt zwei ehemalige Lagerhäftlinge miteinander sprechen, der eine hatte unter Lenin gesessen, der andere wurde unter Stalin zu Beginn des Großen Terrors 1937 verhaftet, als die meisten Gefangenen noch elend zugrunde gingen:
„Ja. Ein Pfahl mit der Nummer „Gulag 92 JN 90“, sonst nichts. In der ersten Zeit haben wir bei strengem Frost mit bloßen Händen dünne Stäbe gebrochen, um Hütten zu bauen…nach und nach haben wir uns selber eingebaut. Wir haben unsere eigenen Gefängnisse errichtet, drum herum Zäune, Karzer, Wachtürme – alles mit eigenen Händen. Danach mussten wir Bäume fällen. Je acht Mann vor den Schlitten, so haben wir die Stämme gezogen, bis zur Brust im Schnee.“
Im Krieg durften die Häftlinge sich freiwillig für die Strafkompanien an die Front melden. Wer die endlosen Kämpfe überlebte, kam in die Freiheit.
„Dann Angriff auf Angriff…monatelang orkanartiges Feuer…diese blutige Hölle war noch ein Glück, verglichen mit den Gräueln des Konzentrationslagers…
Pasternaks „Dr. Schiwago“ zählt zur Weltliteratur und erlebte Millionenauflagen. Von daher ist es ein Rätsel, warum die geschilderten Gräuel nie zum Allgemeinwissen wurden.
Pasternaks Urteil ist vernichtend: „…die Kollektivierung war eine falsche, misslungene Maßnahme, und sie wollten nur nicht den Fehler zugeben. Um den Misserfolg zu bemänteln, mussten sie den Menschen mit allen Abschreckungsmitteln das Denken und Urteilen abgewöhnen und sie zwingen, Nichtvorhandenes zu sehen und dem Augenschein Zuwiderlaufendes behaupten… Als der Krieg ausbrach, waren seine realen Entsetzlichkeiten, seine realen Gefahren und seine realen Todesdrohungen geradezu ein Segen, verglichen mit der unmenschlichen Herrschaft des Ausgedachten…“.
Gegen die Herrschaft des Ausgedachten haben wir auch heute zu kämpfen. Wenn wir den Kampf verlieren, drohen bittere Konsequenzen, auch wenn wir noch nicht genau wissen, wie sie aussehen werden.