Eine kurze Geschichte meines Großvaters

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Ernst Gerber, der Vater meiner Mutter, entstammte einer uralten Bergmannsfamilie, die ihre Wurzeln bis in den Silberbergbau im Erzgebirge zurückführen konnte. Ernst blieb dabei. Er wurde Bergmann. In der Weltwirtschaftskrise wurde er, schon Vater von zwei Kindern, arbeitslos und blieb es bis 1933. Dann bekam er wieder eine Stelle, weil es im Bergbau Tradition war, dass ein ausscheidender Bergmann seinen Nachfolger bestimmen konnte. Der Haken war, dass die Werkleitung von ihm verlangte, Mitglied der NSDAP zu werden. Ernst, SPD-Mitglied bis die Partei verboten wurde, beugte sich dem Druck der Arbeitgeber, die den neuen Machthabern gefällig sein wollten.

Schon zwei Jahre später gewann er den Reichswettbewerb für den besten Bergmann Deutschlands. Vom Preisgeld, 10.000 Reichsmark, finanzierte er ein Studium an der Bergakademie Freiberg, die er mit Bestnoten verließ. Danach wurde er für Leitungsposten eingesetzt. Während des Zweiten Weltkriegs war er Technischer Leiter der Kaligrube Bochnia. Zu den Arbeitern in der Grube gehörten auch Zwangsarbeiter und Lagerhäftlinge. Mein Großvater setzte in, was er „Kampfbesäufnisse“ mit dem zuständigen SS-Aufseher nannte, durch, dass alle Arbeiter die gleiche Essensration bekamen.

Einmal beobachtete er, dass auf dem Bahnhof von Bochnia ein SS-Mann einen kleinen jüdischen Jungen schlug, der nicht schnell genug in einen Zug gestiegen war. Mein Großvater schritt ein, es kam zu einem Handgemenge. Den eisernen Bergarbeiterfäusten hatte der SS-Mann nicht viel entgegenzusetzen. Mein Großvater entwand ihm den Knotenstock, mit dem der geprügelt hatte. Der Stock stand als Trophäe in seinem Büro, bis er es wegen der anrückenden Roten Armee verlassen musste. Sein Vorgehen in beiden Fällen brachte ihm den Rausschmiss „wegen unarischen Verhaltens“ aus der NSDAP ein. Weitere Konsequenzen gab es nicht. Er war wohl als Fachmann unentbehrlich.

Bevor jemand fragt: Das habe ich der Stasiakte meines Vaters Franz Lengsfeld entnommen, dessen Vergangenheit offenbar gründlich durchleuchtet wurde, als seine Abteilung in der NVA Mitte der Siebzigerjahre von der Hauptverwaltung Aufklärung der Staatssicherheit übernommen wurde.

Ernst Gerber wollte mit seinen engsten Mitarbeitern das Werk in Bochnia als Letzter verlassen. Aber der LKW, mit dem sie am nächsten Morgen fahren wollten, wurde in der Nacht von Angehörigen der Armia Krajowa zerstört oder requiriert. Er ließ also am nächsten Morgen Grubenpferde ans Licht holen und spannte sie vor den letzten verfügbaren Leiterwagen. Bevor er losfuhr, kam sein leitender polnischer Ingenieur zu ihm und gab ihm einen Geleitbrief der Armia Krajowa mit auf den Weg, für den Fall, dass seine Fuhre von der Roten Armee eingeholt werden würde. Darin stand, was er für die Zwangsarbeiter getan hatte. Wenn ihn die SS damit erwischt hätte, wäre das sein Ende gewesen.

In einer Stadt wurde der Wagen angehalten und alle Männer aufgefordert, sich sofort dem Volkssturm anzuschließen. Die Einheit wurde im ersten Stock in einer Schule formiert. Mein Großvater hatte nicht die Absicht, da mitzumachen. Er meldete sich, dass er austreten müsse. „Und dann bin ich ausgetreten.“ Die Toilette befand sich im Erdgeschoss. Mein Großvater verließ sie durch ein enges Fenster. Er wandte sich aber nicht nach Westen, wo er mit großer Wahrscheinlichkeit von den Feldjägern erwischt worden wäre, sondern lief in Richtung Front und dann immer kurz vor der Front bis in die Tschechoslowakei, wo es noch ruhig war und er die Fahrt nach Kassel antreten konnte, wo sich die Firmenzentrale von Kali und Salz befand. Dort hatte man ihn auf die Vermisstenliste gesetzt und für tot gehalten.

Mein Großvater war kein Widerstandskämpfer, sondern gehörte zu den gar nicht so wenigen Deutschen, die während der Nazi-Diktatur anständig geblieben sind. Dazu gehört der Dorftischler, der für die französischen Kriegsgefangenen in seinem Ort gegen den Willen des örtlichen NSDAP-Führers Betten baute, dazu gehören die Bauern, die auf ihrer Flucht aus Ostpreußen von ihren Ostarbeitern begleitet wurden, weil sie gut behandelt worden waren. Dazu gehören die Handwerker, deren Familien nach dem Krieg in der Hungerzeit von ihren ehemaligen Fremdarbeitern aus Frankreich mit Lebensmittelpaketen versorgt wurden. Dazu gehören alle Deutschen, die Verfolgten geholfen haben.

Wenn man sich bei der Beschäftigung mit der Nazidiktatur weniger mit der Psyche der Täter befasst, sondern stattdessen untersucht hätte, was Menschen befähigt, der Diktatur zu widerstehen, wären wir heute nicht in einer Situation, in der die öffentliche Debatte mit der Nazikeule bekämpft wird. Die wichtigste Lehre, dass man die totalitären Methoden ächten muss, ist leider nie wirklich berücksichtigt worden. Das muss sich ändern, wenn wir eine Zukunft haben wollen.



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