Carmen und die Freiheit – Premiere im Theater Nordhausen

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Kleine Pannen steigern den Genuss, das war der erste Eindruck von der neuesten Premiere „Carmen“ in Nordhausen. Das überraschende Vorspiel – Manuelita (Irene López Ros), die später den Grund für die Beziehung zwischen Carmen und Don José liefert, trifft in einem Bordell auf Leutnant Zuniga (Thomas Kohl) – musste wiederholt werden, denn beim Übergang zur zweiten Szene fiel der Strom aus. Intendant Daniel Klajner trat vor den Vorhang und bat um Geduld. Der Schaden sei in Kürze behoben. Man würde von vorn beginnen. So hatte das Publikum die Gelegenheit, den Tanz von Manuelita, der die Handlung der Oper in aller Kürze vorwegnahm, und den herrlich asi­gen, um ein Wort von Klaus Mann zu gebrauchen, Zuniga noch einmal zu bewundern. Erotik pur!

Benjamin Prins würde eine ganz neue Interpretation einer der meistgespielten Opern bringen. Das sorgte für Spannung.

In der zweiten Szene sitzt Don José (Kyounghan Seo) im Gefängnis, eine Reminiszenz an das Vorbild der Figur. Im realen Leben war Don José ein gesuchter Mehrfachmörder, als Prosper Mérimée, dessen Novelle Georges Bizet inspirierte, ihm begegnete. Don José wird entlassen und tritt seinen Dienst bei den Soldaten wieder an. Doch bevor er zur Wachablösung erscheint, sucht Micaela (Julia Ermakowa) ihn vergeblich. Ermakowa, mit braven Zöpfen und im blaugrauen Aschenputtel-Kleid, liefert den ersten glanzvollen Auftritt. Ihre Interaktion mit Moralès (Junk-Ug Oh), der sie überreden will, doch zu bleiben, bis Don José erscheint, liefert den Beweis, dass auch die Nebenrollen hervorragend besetzt sind.

Ich habe „Carmen“ schon oft gesehen, aber erst bei dieser Inszenierung wurde mir klar, welch Muttersöhnchen Don José eigentlich war. In allem das totale Gegenstück zu Carmencita. Das konnte nur schiefgehen. Er will Micaela heiraten, weil seine Mutter es wünscht. Aber das Schicksal hatte anderes mit ihm vor. Denn nun haben die Zigarettenarbeiterinnen Pause, bevölkern den Platz und schäkern mit den Soldaten. Alle in roten Kleidern. Man fragt sich, wie Carmen das übertreffen soll. Und dann der Auftritt von Carmen! Ganz in Weiß, wie die Unschuld. Rina Hirayama, von der ich schon früher geschrieben habe, dass sie einfach alles kann, sieht aus wie Schneewittchen und bewegt sich, wie man sich eine Kastagnetten-Tänzerin vorstellt. Hirayama hat Diva-Qualitäten. Wie sie die Habanera vorträgt, erzeugt Gänsehaut. Sie nimmt sich nebenbei Don José vor, denn sie hat bemerkt, dass er als Einziger so tut, als wäre er nicht an ihr interessiert. Sie warnt ihn: „Liebst du mich nicht, bin ich entflammet. Wenn ich lieb, nimm dich in Acht!“

Im Programmheft steht, Carmen wäre keine Femme fatale, sondern eine Freiheitsikone. Das ist nicht falsch, aber sie ist natürlich trotzdem eine Verführerin. Sie will den Kerl knacken. Sie wirft ihm eine Blume zu, er hebt sie auf, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Sie will Freiheit, auch wenn es sie das Leben kostet. Er liebt die Unterwerfung, den Zapfenstreich, der seinem Leben Halt gibt. Kyounghan Seo meistert diese Spannung zwischen Pflicht und Leidenschaft hervorragend.

Auftritt Escamillo (Florian Tavic), in den sich Carmen als Nächstes verliebt. Ein Siegertyp, der sich mit seiner Torero-Arie brillant in Szene setzt. Es ist keine Frage, wem Carmen den Vorzug gibt. Das zeigt schon der Wechsel ihres Kostüms, schwarz-weiß, mit nachgebildeten Stierhörnern am Dekolleté. (Kostüme: Emma Gaudiano)

Der letzte Teil spielt bei den Schmugglern, die in Prins’ Interpretation eine politische Bewegung sind, die sich unter dem Bild der Nationalfigur der Französischen Republik versammeln. Hier legen Carmens Freundinnen Karten. Während Frasquita (Yuval Oren) und Mercédès (Funda Asena Aktop) sich auf eine glückliche Zukunft freuen können, wird Carmen der Tod prophezeit. Hier tritt ihre Leidenschaft für die Freiheit unmissverständlich zutage. Sie fürchtet sich vor dem Tod, aber sie wird lieber sterben, als sich unterwerfen.

Auftritt Micaela, die Don José vom Tod seiner Mutter unterrichtet. Die Zöpfe sind abgeschnitten, das Haar raspelkurz, so wie die Jüdinnen sich das Haar abschnitten, wenn ihnen ein Unglück widerfahren ist. Micaelas Unglück ist Don José, den sie mit einer leidenschaftlichen Arie zwar bewegen kann, mit ihr zu kommen, der beim Abgang aber droht, wiederzukommen.

Das Finale in Sevilla spielt sich vor der Stierkampfarena ab. Carmen wird gewarnt, geht aber einer Begegnung mit Don José nicht aus dem Weg. Rina Hirayama und Kyounghan Seo zeigen hier noch einmal ihr ganzes Können. Die Botschaft: Zwar wird Carmen getötet, aber sie sinkt als Siegerin auf den Boden.

Beim stürmischen Schlussapplaus gibt es Bravo-Rufe für Hirayama, Kyounghan Seo, Tavic, Oren, Kohl, Lopez Ros und den Regisseur Prins, aber eigentlich ist das gesamte Ensemble gemeint, dessen hervorragendes Zusammenspiel zu diesem Erfolg beigetragen hat. Opernliebhaber und solche, die es werden wollen, sollten diese Inszenierung nicht verpassen.

Nächste Vorstellungen: 27.9., 13.10., 27.10., 9.11., 23.11., 14.12.



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