Cora Stephan legt mit „Über alle Gräben hinweg“ den dritten Roman vor, der sich mit der alles entscheidenden Frage befasst, was im schrecklichen 20. Jahrhundert zu Krieg und Totalitarismus geführt hat. In „Ab heute heiße ich Margo“ und „Margos Töchter“ nahm sie die Zeit des Nationalsozialismus und des Totalitarismus stalinistischer Prägung im SED-Staat DDR in den Blick. Nun hat sie ihre Spurensuche auf die Zeit vor dem ersten Weltkrieg ausgeweitet.
„Die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht“, ist ein allzu wahres Statement des berühmten Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec. Nach dem Ersten und dem Zeiten Weltkrieg haben die Sieger die Geschichte umgeschrieben, um ihre Mitschuld an den historischen Katastrophen zu tilgen. Es sind vor allem britische Historiker, auf die sich Stephan bezieht, die angefangen haben, unter dem Berg an interessegeleiteten geschichtlichen „Erzählungen“ die wahren, aber vergessenen, Fakten auszugraben. Ich bin schon lange der festen Überzeugung, dass die Welt erst zur Ruhe kommt, wenn die historischen Lügen den Fakten und damit der Wahrheit Platz machen müssen. Weil es Autoren wie Stephan gibt, könnte es vielleicht gelingen.
Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, um die, wie der Grünenpolitiker Cem Özdemir in aller Einfalt behauptet hat, uns angeblich alle Welt beneidet, hat einen fatalen Fehler: Sie hat die Familiengeschichten, vor allem die der Täter, ausgeklammert und ist nicht der Frage nachgegangen, was Menschen befähigt, den totalitären Versuchungen zu widerstehen. Die Widerstandsbiografien sind sowohl, was den Nationalsozialismus, als auch den Stalinismus und Sozialismus betrifft, vernachlässigt worden. Die These vom Tätervolk nützt vor allem den Tätern und ihren Nachkommen. Wenn alle schuldig sind, verschwindet die eigene Schuld, wird das begangene Verbrechen aufgelöst.
Stephan erzählt die Geschichte zweier Familien, einer deutschen und einer schottischen. Die Väter Ludwig und Alex haben gemeinsam in Heidelberg studiert und der Kontakt zwischen ihnen ist nie angebrochen, die Söhne Alard und Liam verbrachten ein Jahr gemeinsam in Cambridge.
Die deutsche Familie lebt in Mondsee, einem Gut in der Schlesischen Provinz, die schottische auf ihrer schon etwas verfallenden Burg in den Highlands. Beide Väter dienten ihren Regierungen, der Schotte dem britischen Geheimdienst, der deutsche dem Kaiser.
Aus dem Blick dieser Familien werden die geschichtlichen Ereignisse erzählt. Wie der deutsche Kaiser maßgeblich dazu beitrug, dass das Königreich Polen wieder erstand und den Willen der Oberschlesier, bei Deutschland zu bleiben, missachtete. Was der Versailler Vertrag, der anders als der Westfälische Frieden nach dem 30-jährigen-Krieg nicht auf Versöhnung, sondern auf Rache aus war, für die Bevölkerung bedeutete.
Die jungen Leute, sofern sie nicht auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges, der eigentlich Urkatastrophe, verheizt worden sind, waren der festen Meinung, dass es nie wieder so einen Krieg geben wird. Die Politiker sahen das anders, allen voran Hitler, aber auch Churchill.
Alard und Liam, beide für ihre Regierungen tätig, Alard für das Auswärtige Amt, Liam für den britischen Geheimdienst, versuchen beide, mit ihren Möglichkeiten einen neuen Krieg zu verhindern. Alard steht in Verbindung mit der Opposition im AA, Liam gehört beim Geheimdienst zu den Churchill-Gegnern, die versuchten, den Krieg zu beenden.
Der heute besonders von Konservativen hochgelobte Churchill ist eine Person, die dringend neu bewertet werden muss. Er hatte Recht in der Annahme, dass Hitler ein Teufel sei, das hatte aber zur Folge, dass die Verbrechen seines Verbündeten Stalin kaum zur Kenntnis genommen wurden.
Während die Leichenberge Hitlers nach der Zerschlagung des Naziregimes vor aller Augen waren, verrotteten die Toten in der Erde des Gulags, des Eismeerkanals, in den Massengräbern der Hinrichtungsstätten und in der ukrainischen Erde, die im Holodomor mit geschätzten 10 Millionen ukrainischen Kindern, Frauen und Männern gedüngt wurde.
Stephan schildert den Machtkampf im britischen Geheimdienst, als wäre sie dabei gewesen. Dank ihrer Schreibkunst erlebt der Leser den Spanischen Bürgerkrieg in seiner alltäglichen Scheußlichkeit. Sie schildert die Verwüstungen Hamburgs, dem noch Jahre nach den Bombenangriffen der Leichengeruch anhaftete. Sie führt das ländliche Leben in Schlesien in einer Meisterschaft vor Augen, dass man die versunkene Welt vor sich sieht.
Am Ende des Buches begegnet man einigen Figuren aus den beiden früheren Romanen wieder. Vor allem Helene aus „Margos Töchter“, die von Liam in Spanien vor den marodierenden marokkanischen Franco-Söldnern gerettet wird. Alard bringt sie mit einem Diplomatenpass aus Spanien heraus und nach Deutschland, wo Helene in Stendal in dem Fotoatelier untergebracht wird, in dem Margo als Geschäftsführerin arbeitet. Stephan, die als Anne Chaplet auch zahlreiche Kriminalgeschichten geschrieben hat, versteht es nicht nur, Spannungsbögen aufzubauen, sondern über mehr als 400 Seiten zu halten. Da sie Autorin mehrerer Sachbücher ist, kann man sich auf die Genauigkeit der von ihr beschriebenen historischen Fakten verlassen, auch wenn sie weitgehend unbekannt sind oder unwahrscheinlich erscheinen.
Wer das Buch in die Hand nimmt, legt es nicht wieder weg. Nach der Lektüre weiß man mit Sicherheit mehr, vor allem fühlt man sich bereichert und angeregt. Mehr kann man von einem Buch nicht erwarten.
Cora Stephan: „Über alle Gräben hinweg“