Die Ausstrahlung Mexikos oder der Mythos des Besitzens

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Berlin ist immer noch eine Kiezstadt, das heißt, man kommt selten über seinen Kiez hinaus. Pankow, Prenzlauer Berg, Weißensee und Mitte, was braucht man mehr? Es gibt wenig Grund, nach Neukölln zu fahren und deshalb habe ich von der Neuköllner Oper bisher nichts mitbekommen. Ein großes Manko, wie ich bei der Premiere von „Mexiko Aura: The Myth of Possession“, die ich im Humboldt-Forum gesehen habe, feststellen musste. Die Truppe verfügt über starke Stimmen und grandiose Tänzer, die eine neuartige und ungewohnte Inszenierung zum Erlebnis machen.

Die Idee entstand, wie das Programmheft verrät, bei der Begegnung mit der mexikanischen Komponistin und Sängerin Diana Syrse, die auch eine der beiden Hauptrollen übernommen hat und dem Tänzer und Choreographen Christopher Roma. Es sollte versucht werden, über Musik, Tanz, mehrsprachigem Text, Körper und Stimmen die Kulturen Mexikos einzufangen. Das ist gelungen.

Ich gesteh, dass ich keine Freundin moderner Kompositionen bin, aber Syrses Musik hat mich nach kurzer Eingewöhnung in ihren Bann gezogen. Sie hat etwas Magisches. Das liegt nicht nur an den präspanischen Instrumenten aus Mexiko, die sie einsetzt, sondern an der Kunst, auch NichtIinstrumenten, wie Plastetüten, Töne abzuringen, was völlig neue Klangeffekte erzeugt.  Und dann die Symbiose, die Musik und Tänzer eingehen – das ist meisterhaft!

Mich hat die Dirigentin Melissa Panlasigui so fasziniert, dass ich ab und zu Gefahr lief, das Geschehen auf der Bühne zu verpassen. Bewundernswert, wie Panlasigui dafür sorgte, dass alle Einsätze auf den Punkt gebracht wurden.

Überraschend war, wie Teile von Reportagen des Claas Relotius von Texter John von Düffel aufgegriffen und für das Stück verarbeitet wurden. Schließlich scheint Relotius Mexiko ebenso wenig besucht zu haben, wie einst Karl May Amerika. Das war der weniger überzeugende Teil des Ganzen.

Einer der „Augenzeugenberichte“ von Relotius ist „Das Zuhause auf der größten Müllkippe Lateinamerikas“. Da ist das erschütternde Thema, dass Menschen von den Abfällen unserer Lebensweise existieren, eher unzureichend behandelt. Das hat Sebastian Fitzek in seinem Buch „Noah“ mit der Beschreibung der philippinischen Müllkippe viel überzeugender behandelt. Dazu kommt, dass das reinweiße Plastiktuch, in dem die Tänzer sich bewegten, auch eher an eine Wolke, als an einen Abfallhaufen erinnert.

Dafür ist Teil zwei, dessen Text von Eva Hibernia stammt, um so gelungener. In einem Museum begegnen sich des nachts eine Kuratorin und eine geheimnisvolle Künstlerin oder Aktivistin.

„In einem halb konkreten, halb mystischen Raum (Vier Mosaiksteine- vier Himmelsrichtungen- vier Farben) entfaltet sich eine Geschichte über ihr Verhältnis zueinander und über Traditionen und Mythen aus ihrem Heimatland“, so steht es im Programmheft. Und weiter, dass die Geschichten weniger komplex als in Stereotypen erzählt werden. Wenn das so sein sollte, sind es jedenfalls Stereotypen, die sehr komplexe Assoziationen auslösen.

Ganz mystisch wird es, wenn auf die Enema-Vase Bezug genommen wird, die demnächst im Ethnologischen Museum zu sehen sein wird. Sie zeigt Riten der Maya, die sich halluzinogene Substanzen durch den After einführen. Da die Figuren nackt sind, ist auch der vortragende Sänger nackt, was bei manchen Damen Herzrasen verursacht haben könnte, denn zwei verließen fluchtartig den Saal.

Aber das übergreifende Thema der Oper ist das Problem, was eine Kultur, die so viel Müll produziert, in der Tiefsee kann ein Plastebecher offenbar Jahrhunderte überdauern, ohne eine Spur von Verwesung zu zeigen, bedeutet. Was das für unser Leben heißt. Das Bühnenbild und die Kostüme von Sängern und Tänzern bestehen überwiegend aus Plastemüll. Mit roter Plasteplane kann man sogar ein Autodafé darstellen. Mit Müll kann man also Eindruck erzeugen.

Das ganze Stück atmet Untergangsstimmung. Es endet damit, dass der fälschlich für den 12. Dezember 2012 berechnete

Weltuntergang laut Mayakalender, die Schnapszahl 12.12.12 lag nur wenige Tage vor dem Ende des Kalenders, auf den 12.12. 22 verlegt wird.

Allerdings muss der Weltuntergang nicht das Ende, sondern könnte die Transformation, die durch die Sonne ausgelöst wird, bedeuten.

Da ist dann also der notwendige Hoffnungsschimmer am Schluss, den zweiTänzer darstellen. So viel Schönheit und Grazie darf einfach nicht enden!

Nächste Vorstellungen: 23., 24., 29. Juli im Humboldt-Forum



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