Der Titel des Buches von Martin Puchner hat mich fasziniert, aber ich hatte mir unter dem Inhalt etwas anderes vorgestellt. Bislang hielt ich Rotwelsch für die Sprache der Zigeuner – ich benutze das Wort absichtlich, weil es nicht nur Sinti und Roma, sondern über 100 andere Zigeunerfamilien gibt. Und weil der Untertitel vom „Geheimnis“ von Puchners Familie sprach, nahm ich an, seine Vorfahren wären Zigeuner gewesen. Mit beiden Annahmen lag ich falsch.
Rotwelsch ist die Sprache der vagabundierenden Kriminellen und in Puchners Familie gab es zwar einen Vorfahr, der Frau und Kinder verließ, um fortan als Straßenmusikant umherzuziehen, aber das Geheimnis stellte sich als das Verschweigen der Verstrickungen des Großvaters väterlicherseits in das Naziregime heraus.
Man lernt bei der Lektüre dieses Buches viel über Sprache und noch mehr über die Versäumnisse der Aufarbeitung der Nazidiktatur, die uns jetzt auf die Füße fallen.
Puchner hat in den Schulen der alten BRD die Naziverbrechen als etwas gelehrt bekommen, dass irgendwelche Anderen betraf, nicht die eigene Familie. Die Frage des individuellen Verhaltens wurde viel zu selten gestellt. Als die Entnazifizierung abgeschlossen war, wurde dieses Kapitel mehr oder weniger ad acta gelegt.
Es ging nicht so weit, dass, wie in der DDR, sich der Staat als antifaschistisch erklärte und damit alle kleineren Naziaktivisten rehabilitierte. Als ich junge wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentralinstitut für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften war, wurde mir hinter vorgehaltener Hand zugeraunt, dass mein Professor HJ-Führer, sogar Wehrwolf, gewesen sein soll, bevor er als junger Wissenschaftler der Universität Jena die bürgerlichen Professoren austrieb. Die Kaderleiterin soll BDM-Führerin gewesen sein. Ein Reisekader, spezialisiert auf Kritik der bürgerlichen Philosophie, war in jungen Jahren Ortsgruppenführer der NSDAP Breslau. Professor Herrmann Klenner sitzt immer noch als wahrscheinlich letzter aktiver Nazi im Ältestenrat der SED-Linken und ist kein Hindernis, diese Partei heute dem demokratischen Spektrum zuzuordnen.
Die BRD wurde vom SED-Regime erfolgreich als Fortsetzerin des Dritten Reiches diskreditiert und große Teile der westdeutschen Linken spielten auf der gleichen Klaviatur.
Es bleib nicht aus, dass der Eine oder die Andere damit leben mussten, dass der Vater aktiv bei der SS war. Um diese Qual zu erleichtern, wurde die Kollektivschuldthese entwickelt. Nicht mehr die Täter, nein, alle Deutschen waren gleich schuld.
In der Familie Puchner übte das Rotwelsch eine merkwürdige Faszination aus. Vor allem der Onkel Günter schien viel darüber zu wissen. Er brachte dem jungen Martin die ersten Zeichen, genannt Zinken, bei, mit denen die Fahrenden für ihre Nachfolger die Häuser markierten. Er lernte von Onkel Günter auch einige Rotwelsch-Begriffe. Warum sich Onkel Günter mit Rotwelsch beschäftigte, sogar eine Obsession entwickelte, blieb lange unklar. Bis Puchner als Student in Harvard aus einem Impuls heraus in der Bibliothek nachsah, ob es Schriften seines Großvaters gäbe. Es gab sie und sie waren eine böse Überraschung. Karl Puchner hatte als Namensforscher ein Buch darüber verfasst, wie man jüdische Namen identifizieren kann, auch wenn sie deutsch klingen. Seine Forschungsergebnisse könnten bei der Verfolgung der Juden hilfreich gewesen sein. Außerdem verdammte Karl Puchner das Jiddische und Rotwelsch als Geheimsprachen und sprach sich für ihre Eliminierung aus.
Weitere Nachforschungen ergaben, dass Großvater Puchner schon Jahre vor der Machtergreifung NSDAP-Mitglied geworden, sogar der SA beigetreten war. Nach 1945 wurde er erst als Aktivist eingestuft, was das Ende seiner beruflichen Karriere als Archivar bedeutet hätte. Es gelang ihm aber schließlich, sich als verführter Mitläufer hinzustellen. Er durfte nicht nur wieder als Archivar arbeiten, sondern wurde später sogar Direktor des Bayrischen Hauptarchivs in München. Dort ist seine komplette Personalkarte aufbewahrt und Martin Puchner resümiert, dass das Beste, was man von seinem Großvater sagen kann, ist, dass er nicht den Versuch gemacht hat, Teile seiner Akte zu vernichten.
Das familiäre Gegenstück ist der Großvater mütterlicherseits, der wegen Feindsender-Hörens vom berüchtigten Nazirichter Freisler verurteilt wurde, zwar nicht zu Haft im KZ Sachsenhausen, wie es in der Familienlegende heißt, sondern „nur“ in einem Gefängnis, aber seine Gegnerschaft zum Naziregime steht außerhalb jedes Zweifels. Ähnlich wird es in vielen Familien ausgesehen haben.
Karls beide Söhne entwickelten eine Faszination für das von ihrem Vater verdammte Rotwelsch. Bei Onkel Günter ging das so weit, dass er Teile der Bibel und der Weltliteratur ins Rotwelsche übersetzte. Er wollte der Rotwelsch-Literatur Geltung verschaffen, scheiterte aber daran, dass es keine solche Literatur gab.
Die Obsession des Onkels ist auf Martin Puchner übergesprungen. Er erforschte im Laufe der Jahre das Rotwelsche, gestützt auf das Archiv seines Onkels, das er vor dem Verrotten auf dem Dachboden rettete, bis in alle Einzelheiten. Weil er ein zerlesenes Exemplar von „Mein Kampf“ im Nachlass fand, las er es und stellte fest, dass Adolf Hitler in seinen Wiener Jahren, in denen er überwiegend in Männerwohnheimen übernachtete, mit Rotwelsch in Berührung gekommen sein muss. Was mich irritiert, scheint Puchner fasziniert zu haben, denn er findet nicht nur befremdlicherweise diesen Teil von Hitlers Autobiografie „anrührend“, sondern er kommt an 18 Stellen, die sich zum Teil über mehrere Seiten hinziehen und von Wiederholungen nicht frei sind, auf Hitler zu sprechen.
Sehr viel Aufmerksamkeit widmet Puchner Martin Luther. Hier ist er sehr kritisch, nicht nur, was des Reformators antisemitische Schriften betrifft, sondern auch in Bezug auf seine Abneigung gegenüber Fahrenden und deren Sprache. Luther ist bei Puchner der Erfinder der Ausweispflicht, die Fahrenden auferlegt, Dokumente vorzuweisen.
Von allen historischen Verästelungen in diesem Buch will ich nur noch erwähnen, dass auch Jesus Rotwelsch gekannt haben soll.
Insgesamt ist Puchners Buch nicht nur eine wirklich anrührende Familiengeschichte, wie sie in dieser Ehrlichkeit häufiger geschrieben werden sollte, sondern auch ein Lehrstück über Sprachentwicklung.
In Auseinandersetzung mit der These seines Großvaters, dass Rotwelsch und Jiddisch Geheimsprachen seien, schreibt er den für mich wichtigsten Satz des Buches nieder:
„Banden, die sich zusammentun und Geheimwörter festlegen – so entwickeln sich Sprachen nicht“.
Da fiel mir sofort ein, dass wir in Zeiten leben, wo nicht Banden, aber Gruppen, festlegen, welche Wörter benutzt werden dürfen und welche nicht und Kunstwörter einführen, die politisch-korrekt sein sollen. Das ist keine Sprachentwicklung, sondern Sprachvergewaltigung. Wichtig auch, was Puchner über Dialekte oder Jargon schreibt:
„Besonders wichtig ist Jargon für Randgruppen. Um sich vor mächtigen Mehrheiten zu schützen, müssen sie gemeinsame Erfahrung und gemeinsames Wissen pflegen.“ Das sollte umgekehrt auch als Schutz vor mächtigen Minderheiten gelten.
Martin Puchner: Die Sprache der Vagabunden