In einer Zeit, da sozialistische Rezepte zur Bewältigung der politischen Krisen dieses Jahrhunderts propagiert werden, ist es nötiger denn je, sich mit der kommunistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber gerade das geschieht immer weniger. Unserer Gegenwart, wie Marc Bonnant im Vorwort des neuen Buches von Oskar Freysinger richtig feststellt, fehlt es an Vergangenheit. Deshalb ist die Zukunft enterbt.
„Der moderne Mensch findet seine Freiheit in seiner Unwissenheit“.
Dass die „Oktoberrevolution“ von 1917 in Russland in Wahrheit ein Putsch gegen die erste demokratische Regierung war und kein Coup gegen den Zaren, weiß heute fast niemand mehr. Die schreckliche Wahrheit hinter der Bürgerkriegsromantik – Rot gegen Weiß – ist verblasst. Eine Troika war damals kein Schlittengespann mit drei Pferden, sondern eine Dreiergruppe, die im Minutentakt Menschen zum Tode verurteilte, die gleich hinter dem Haus, in dem das Standgericht stattfand, erschossen wurden.
„Hundert Millionen Tote. Kein Nürnberger Prozess. Ein kollektiver Gedächtnisschwund als einziges Urteil der Geschichte“.
Oskar Freysinger schreibt mit seinen Romanen gegen das Vergessen an.
Die Geschichte, die er erzählt, fesselt den Leser von Anfang an. In Zaryzin, dem späteren Stalingrad, wird ein gefangener Rotarmist 1918 vom weißen Kommandeur gezwungen, mit ihm Schach zu spielen. Verliert er, wird er gehenkt, gewinnt er, wird er erschossen. Gagarin, gerade 17 Jahre alt, versucht das Spiel hinauszuzögern und ein Remis zu erreichen.
Einen Zug vor dem nicht mehr abwendbaren Ende des Spiels, erobern die Roten das Terrain zurück. Oleg und Ilja heißen die Retter. Die Drei werden unzertrennlich. Auch als Gagarin Mitglied der Tscheka wird und Teil der Vernichtungsmaschine gegen „Konterrevolutionäre“ wird, bleiben sie zusammen. Gagarin arbeitet eng mit seinem Vorgesetzten Radek zusammen. Das Duo funktioniert ebenso mitleidlos, wie effizient. Bis eines Tages Mascha, Tochter aus einer St. Petersburger Adelsfamilie in den Raum geführt wird. Sie fordert die beiden Henker als erstes auf, ihr Feuer zu geben, was der verblüffte Radek auch tut. Dann will sie einen Stuhl, um ihre letzte Zigarette im Sitzen genießen zu können. Radek gibt ihr tatsächlich seinen Stuhl. Dann sagt sie, dass sie nicht daran denke, um Gnade zu betteln und provoziert die beiden, sie sofort zu erschießen. Radek stellt fest, dass er das nicht kann, als Gagarin es tun will, wird er von seinem Vorgesetzten daran gehindert und verlässt wütend den Raum. Er sucht bei Oleg und Ilja Unterstützung gegen Radek, die er aber nicht bekommt. In tiefem Groll lässt Gagarin sich an einen anderen Frontabschnitt versetzen.
In Moskau 1937 ist Gagarin einer der erfolgreichsten Vernehmer in der Ljubljanka, dem berüchtigten Gefängnis des NKWD, später KGB, mitten in der Stadt. Er schlägt seine „Patienten“, wie er sie nennt, nicht, sondern spielt mit ihnen Schach. Er ist der einzige Mensch, den die Gefangenen in ihrer Einzelhaft zu Gesicht bekommen.
Radek ist inzwischen Armeegeneral und lebt mit seiner Ehefrau Mascha ebenfalls in Moskau, wohin es auch Oleg und Ilja in niedrigeren militärischen Rängen verschlagen hat. Als Erster fällt Ilja den Säuberungen zum Opfer. Er kommt noch mit Verbannung in den Gulag davon. Radek, der von Mascha erfährt, welches Schicksal seinem Freund beschieden war, kann noch durch Beziehungen erreichen, dass Ilja freigelassen wird. Kurz darauf werden Radek und Oleg verhaftet. Sie geraten in die Fänge von Gagarin. Der inszeniert ein mörderisches Spiel mit den beiden und mit Mascha, der er vorgauckelt, sie könne die Erschießung von Radek verhindern. Besonders perfide ist die Idee Gagarins, Radek die Partie, die er mit Mascha spielt zur Kenntnis zu geben. Was Gagarin nicht bemerkt ist, dass Mascha, Radek eine Botschaft zu übermitteln konnte. Durch scheinbar erratische Züge gelingt es ihr, die weißen Figuren zu einem Kreuz aufzustellen. Radek erkennt, dass sie das Spiel durch Selbstmord beendet hat. Radek entkommt lebend, weil er statt des wahnsinnig gewordenen Oleg in eine sibirische Irrenanstalt gebracht wird. Oleg wird im Keller der Ljubljanka statt Radeks erschossen. Dafür hat Ilja, der sich nach seiner Freilassung als Gefängniswärter anheuern ließ, gesorgt.
Wer wissen will, wie es gelingt, Gagarin 1951 mittels einer Fernpartie ins tiefste Sibirien zu locken und dort in einer Irrenanstalt schachmatt zu setzen, muss das Buch lesen. Es ist ein hochspannender Thriller, der nebenbei viele Geschichtskenntnisse vermittelt. Wer will, kann anschließend die Partie nachspielen.
Marc Bonnant, der Nietzsche-Kenner, verweist darauf, „dass die Zeit kein Pfeil ist, sondern das Versprechen oder die Bedrohung einer ewigen Wiederkehr in sich trägt“.
Freysinger schreibt dagegen an, es sind ihm viele Leser zu wünschen.