Von Gastaurorin Annette Heinisch
„Wir erleben gerade einen Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit…. Was an Universitäten und Bildungsanstalten begann, ist in Kunst und Kultur, bei Kabarettisten und Leitartiklern angekommen.
Inzwischen sind die demokratischen Prozesse selbst bedroht. Der freie Zugang zum öffentlichen Debattenraum ist die Wesensgrundlage eines jeden künstlerischen, wissenschaftlichen oder journalistischen Schaffens sowie die Basis für die Urteilskraft eines jeden Bürgers. Ohne freie Debatten und freie Rede gibt es keine funktionierende Demokratie…
Die gezielte Verunglimpfung von Intellektuellen, Künstlern, Autoren und jedem, der von der aktuell herrschenden öffentlichen Meinung abweicht, ist eine inakzeptable Anmaßung. Freie Rede und Informationsgewinnung sowie freie wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung sind Rechte und nicht Privilegien, die von dominierenden Gesinnungsgemeinschaften an Gesinnungsgleiche verliehen und missliebigen Personen entzogen werden können.“
Das sind Auszüge des Appells für freie Debattenräume https://idw-europe.org/
der von vielen – mittlerweile sogar sehr vielen – unterzeichnet wurde. Dabei geht die Liste querbeet, sie reicht von Boris Palmer bis zu Dieter Nuhr. Auch diverse Autoren der Achse des Guten gehören dazu, inklusive meiner Wenigkeit.
Bei dem von Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser initiierten Appell, der das deutschsprachige Pendant zu dem vor einigen Wochen von 153 Intellektuellen unterzeichneten Aufruf „A letter on justice and open debate“ im Magazin Harper´s ist,
https://harpers.org/a-letter-on-justice-and-open-debate/
geht es eigentlich um eine pure Selbstverständlichkeit: Den offenen und angstfreien Diskurs.
Die Meinungsfreiheit ist wie jede Freiheit vor allem die Freiheit des Andersdenkenden. Sonst wäre sie sinnlos. Wer Angst um seine Person hat, ist unfrei.
Angst um die persönliche und existenzielle Unversehrtheit hat aber nicht nur derjenige, der mit physischem Tod oder Folter bedroht wird, sondern auch derjenige, dessen berufliche Existenz bedroht oder vernichtet wird. Aber auch die Missachtung der Würde des Menschen durch Diffamierungskampagnen fällt darunter. Wenn „shitstorms“ einer aufgewiegelten Menge, die sich zugleich als Ankläger, Richter und Vollstrecker betätigt, zur sozialen Ausgrenzung führt, ist dies für den Betroffenen psychische Folter.
Wer das befürchten muss, hält den Mund. Es sind mittelalterliche Methoden der Existenzvernichtung durch Ächtung, die gegen elementarste Grundsätze der Fairness verstoßen.
Ohne offenen Diskurs verlieren wir das, was den Westen groß, was ihn stark machte: Die Entwicklung neuer Ideen, die hervorragenden Errungenschaften von Forschung und Wissenschaft, die Achtung vor der Würde eines jeden Menschen.
Die grundlegende Voraussetzung des rationalen Diskurses ist die Trennung der Sach – von der persönlichen Ebene. Diese Distanz ermöglicht es, sich über etwas lustig machen zu können und damit eine andere Perspektive zu bekommen. Sie ermöglicht es auch, völlig unterschiedliche Bewertungen eines Sachverhaltes haben zu können, dabei aber gemütlich zusammen zu sitzen und sich persönlich zu schätzen. Als Anwalt werde ich häufig gefragt, wie ich denn mit Kollegen einen Kaffee trinken gehen könne, mit denen ich mich kurz zuvor vor Gericht heftig gestritten habe. Meine Antwort ist, dass es ganz problemlos geht, denn wir streiten zur Sache, nicht zur Person. Außerdem kennen wir beide Seiten, mal vertreten wir die Kläger, mal die Beklagten. Wer lernt, eine Sache mit den Augen des Anderen zu sehen, sieht mehr.
Der Diskurs auf Sachebene ist die Brücke zwischen Ländern, Religionen, Geschlechtern, unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen oder Weltanschauungen. Er ist die Brücke des Verstehens und Verständnisses. Die Herrschaft der Angst zerstört sie.
Wie Alexander Wendt, einer der Erstunterzeichner in seinem Beitrag „Die neuen Taliban, ihre vorübergehenden Erfolge – und woran sie scheitern werden“
Die neuen Taliban, ihre vorübergehenden Erfolge – und woran sie scheitern werden
zutreffend schreibt, ist die sogenannte cancel culture im deutschsprachigen Raum noch nicht so weit gediehen wie im angelsächsischen. Aber die Welle schwappt, sie ist schon dabei, unsere Sprache zu korrumpieren. Wenn sie komplett überschwappt, wird ihre zerstörerische Kraft auch hier viel hinwegschwemmen. Und wie so oft ist es unendlich viel leichter, etwas zu zerstören als es wiederaufzubauen. Manches geht sogar dauerhaft verloren.
Daher sind die Forderungen des Appells, sich dem Druck nicht zu beugen, sich mit den Ausgeladenen, Zensierten, Unsichtbar gewordenen zu solidarisieren und das unselige Phänomen der „Kontaktschuld“ zu beenden, aus meiner Sicht absolut nachvollziehbar und unterstützenswert.