Am Spätnachmittag des 9. April 1468 suchte ein Reiter seinen Weg durch das wilde Wessex. Sein Bischof hatte den jungen Mönch losgeschickt, um einen verstorbenen Pfarrer in einem abgelegenen Dorf zu beerdigen. Er kommt schließlich in dem Pfarrhaus an, wo er nicht nur den toten Pfarrer, sondern jede Menge verbotene Artefakte und Bücher vorfindet, darunter die zwanzigbändige Ausgabe der Forschungsergebnisse der geächtetenen „Gesellschaft für Altertumsforschung“. Als er noch ein Kind war, hatte er der Verbrennung dieser Bücher auf dem Scheiterhaufen von Essex beigewohnt.
Neben dem Bücherregal steht eine Vitrine, die allerlei Antikes enthält: Kugelschreiber, Plastikpuppen, seltsame, wie Birnen geformte Gläser, die ein Loch am Ende haben, das mit spiralförmigen Rillen verziert ist und ein schwarzes handtellergroßes Gerät, dünner als sein kleiner Finger, auf dem ein angebissener Apfel eingraviert ist. Erst da, im dritten Kapitel, wird dem Leser auf diese Wiese mitgeteilt, dass die Handlung nicht in unserem Mittelalter spielt, sondern im Jahr 800 nach der apokalyptischen Katastrophe, die eine ganze Zivilisation ausgelöscht hat.
Reste dieser Zivilisation findet man überall im Land. Man kann kaum einen Garten umgraben, ein Feld pflügen oder einen Graben ausheben, ohne auf menschliche Skelette und ihre Hinterlassenschaften zu stoßen. Hauptsächlich ist es Plastik und Glas, was die Zeiten überlebt hat. Metall ist fast vollständig verrostet, der Beton zerbröselt. Von der alten Zivilisation haben nur die steinernen Kirchen überdauert, die den Überlebenden der Katastrophe, von der man nie erfährt, was sie ausgelöst hat, Schutz boten und der Ausgangspunkt für den Aufbau einer neuen Zivilisation wurden.
Mehr als 60 Millionen Menschen sollen vor der Katastrophe in England gelebt haben. Jetzt zählt es etwa sechs Millionen Einwohner, die kaum das 50. Lebensjahr erreichen.
Dem jungen Priester ist beim Anblick all der verbotenen Dinge klar, dass sich der verstorbene Pfarrer der Ketzerei ergeben und streng untersagte Altertums-Forschungen angestellt hat. Er kann aber seine Neugier nicht bezwingen und fängt an, zu lesen. Dadurch erfährt er, dass sich die Nachforschungen des Verstorbenen auf ein Gebiet nahe des Dorfes, genannt der Teufelsstuhl, bezogen haben. Fairfax, so heißt der Priester findet schließlich einen Brief aus der Zeit vor der großen Katastrophe, geschrieben von einem Nobelpreisträger der Physik, der den Zusammenbruch der Zivilisation voraussah und beschlossen hatte, am Teufelsstuhl eine Arche zu errichten, in die er sich mit seiner Familie und seinen Freunden zurückziehen konnte. London, so schrieb er, wäre nur wenige Mahlzeiten vom Verhungern entfernt, man müsste im Ernstfall in abgelegene ländliche Regionen ausweichen, bevor der große Exodus aus den Städten einsetzt.
Harris schildert die repressive Atmosphäre der neuen christlichen Zivilisation, die frühmittelalterlich anmutet, aber ohne die Schönheit auskommen muss, die unser Mittelalter hervorgebracht hat. Nur die Natur hat sich erholt und umgibt die Menschen mit einer Vielzahl von Pflanzen und Tieren. Die Legenden der untergegangenen Zivilisation sind schwach, vor allem leben sie im Dorf fort, in den Spielen der Kinder, denen der Pfarrer erzählt hat, dass die Vorfahren sich nicht nur mit unglaublich schnellen Gefährten fortbewegten, sondern auch fliegen konnten. Wie sie das angestellt haben, weiß man nicht. Sie waren unglaublich gesund, wurden bis zu hundert Jahre alt und gingen doch unter.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit macht sich ein kleiner Trupp um Fairfax zum Teufelsstuhl auf, um dort nach der vermuteten Arche zu graben. Bevor sie aber den eigentlichen Bunker finden, entdecken sie ein Massengrab und eine Hinrichtungsstätte. Im Bunker finden sie dann tatsächlich das Skelett des Nobelpreisträgers, dessen Medaille neben seinem Sarg auf einem Etwas lag, das wie ein zerfallenes Kissen aussieht. In der Grabkammer sind rund um den Sarg Geräte mit dem angebissenen Apfel ausgestellt, Zeichnungen an der Wand zeigen, dass der Arche-Erbauer wie ein Gott verehrt wurde.
Ganz zum Schluss, kurz bevor eine Schlammlawine den Bunker unter sich begräbt, kommt Fairfax die Erkenntnis, dass die Hingerichteten die ursprünglichen Dorfbewohner waren, die von den London-Flüchtlingen als Nahrungs-Konkurrenten beseitigt wurden. Als sich die Verhältnisse nach der Katastrophe normalisiert hatten, nahmen die Flüchtlinge das Dorf in ihren Besitz. Die Bewohner, die Fairfax dort kennengelernt hatte, waren ihre Nachfahren.
Robert Harris, der seit seinem Erstling “Vaterland” nur internationale Bestseller geschrieben hat, ist wieder ein packendes Buch gelungen. Ich konnte es kaum aus der Hand legen. Vor allem macht die Beschreibung, was von unseren großartigen Errungenschaften eigentlich übrig bleibt: Plastik und Glas, sehr nachdenklich. Von den Bauten, die heute in den Himmel wachsen, wäre in achthundert Jahren nichts mehr zu sehen. Nur die Kirchen überdauern. Harris zeigt, was das Ergebnis der derzeitigen Politik, der ideologischen Destabilisierung der Stromnetze durch „erneuerbare Energien“ , verbunden mit der wachsenden Gefahr eines großflächigen, mehrtägigen Blackouts, sein könnte. Ein Buch für alle, die mutig genug sind, die trügerische Komfortzone zu verlassen und möglichen Gefahren ins Auge zu sehen.
Robert Harris: Der zweite Schlaf