Die Europäische Geschichte des letzten Jahrhunderts ist voller schwarzer Löcher, besonders was die Jahre nach dem Zeiten Weltkrieg betrifft. Der heute als „Tag der Befreiung“ gefeierte 8. Mai 1945 war für viele Menschen noch nicht das Ende der Barbarei. Jüdische Menschen in Nachkriegspolen bezeichneten 1947 als das 8. Jahr des Krieges, weil ihre Verfolgung nicht aufgehört hatte.
Heute weiß man verzweifelt wenig über diese Zeit. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Aufarbeitung der Kommunistischen Diktatur in Mittel- und Osteuropa nur sehr lückenhaft passiert ist.
Gabriel Berger, Sohn polnischer Juden, der mit seinen Eltern Polen 1957 verlassen musste, weil sein Vater seine Arbeit unter fadenscheinigen Vorwänden verlor und die damit verbundenen Anfeindungen nicht mehr ertragen konnte, hat ein Buch vorgelegt, das etwas mehr Licht ins Dunkel der Nachkriegsgeschichte bringt. Er beschreibt in: “Umgeben von Hass und Mitgefühl“ die erstaunliche Geschichte der jüdischen Autonomie in Polen, ihre kurze Blüte und ihr Scheitern.
„Unmittelbar nach Kriegsende, drei Jahre vor der Gründung des Staates Israel, kam es im nun polnischen Niederschlesien zu einer Renaissance jüdischen Lebens.Das war ein um so größeres Wunder, als von den einst dreieinhalb Millionen Juden Polens nur etwa 300.000 die Schoah überlebt hatten. Zahlreiche…Überlebende der Konzentrationslager oder Rückkehrer aus der Sowjetunion, siedelten sich in Niederschlesien an, wo sie…eine jüdische Autonomie begründeten, mit Jiddisch als Kommunikationssprache, mit jüdischen politischen Parteien, eigenen Produktionsstätten, eigenen kulturellen und sozialen Einrichtungen.“
Gelungen ist diese Gründung vor allem dank der Initiative und des unermüdlichen Einsatzes von Jakob Egit, einer der unbekannten Helden, die es mehr verdient hätten als diverse Politiker, ins historische Gedächtnis Europas aufgenommen zu werden.
Der zunächst erfolgreiche Versuch auf ehemals deutschem Boden ein eigenständiges jüdisches Leben weder aufzubauen, ist eine der Taten, auf die Europa mit Stolz verweisen könnte, nein, sollte. Gleichzeitig sind die Gründe seines Scheiterns genau zu analysieren, denn, wie der polnische Philosoph Adam Chmielewski sagt: „Die gegenwärtigen Formen des polnischen Antisemitismus kann man …nur vor dem Hintergrund seiner früheren Formen…verstehen.“ Deshalb ist Gabriel Bergers Buch so wichtig.
Nach den Verträgen der Anti-Hitler-Koaliton von Teheran und Jalta wurden die polnischen Ostgebiete, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt von den Sowjets besetzt worden waren, der Sowjetunion zugesprochen. Dafür wurde Polen nach Westen hin bis an die Oder erweitert. Mitte 1945 war Niederschlesien weitgehend von den Deutschen geräumt. Neben den Polen aus den von den Sowjets besetzten Gebieten kamen auch Juden in die leergezogene Region. Zuerst waren es Überlebende des KZ Groß Rosen und seiner Außenlager, etwa 6000 Menschen, von denen 1200 beschlossen, sich,wie Jakob Egit unermüdlich propagierte, in Reichenbach niederzulassen. Dann kamen Rückkehrer aus den polnischen Verstecken und aus der Sowjetunion dazu. Innerhalb eines Jahres lebten 12 000 Juden in der Stadt. Damit war mitten im ehemals deutschem Gebiet eine jiddische Jischuv entstanden.Das war ein Triumph über alle Vernichtungspläne, nicht nur der Deutschen, sondern auch über die geplante „Entjudung“ des polnischen Staates.
In den ersten Kapiteln rekapituliert Berger die Stadien des Antisemitismus vor und im Zweiten Weltkrieg in Polen.Die polnischen Nationalisten hatten vor, Juden in Polen nach dem Vorbild der Nürnberger Rassegesetze auszugrenzen. „Die ganze Welt schaut gebannt auf den Kampf der germanischen Kultur gegen die semitische Seuche“, so eine katholische Zeitschrift im Februar 1939. Eine andere katholische Zeitschrift rief dazu auf, dem deutschen Beispiel zu folgen und Bücher jüdischer Autoren zu verbrennen. Im Unterschied zu den Deutschen sollte den Juden aber kein körperliches Leid zugefügt werden. Sie sollten lediglich das Land verlassen. Höchstens 50 000 von den dreieinhalb Millionen dürften bleiben, sagte der Vizepräsident Polens 1939. Diese Vertreibungspläne vereitelte der deutsche Überfall. Die „Entjudung des polnischen Staates“ wurde nun mit größtmöglicher Brutalität vollzogen. Das war nicht allein ein Werk der Deutschen, sondern viele Pogrome wurden von Polen und Ukrainern veranstaltet. Berger erinnert an die bittere, im heutigen Polen ungeliebte Tatsache, dass die Polen während des Zweiten Weltkrieges mehr Juden als Deutsche getötet haben. Darauf hat als erster der polnisch-amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross hingewiesen, wofür ihm der Verdienstorden, den er für seinen Widerstand gegen die kommunistische Diktatur verliehen bekommen hatte, aberkannt werden soll. Eine Forderung, die auch der legendäre Führer von Solidarność, Lech Wałęsa, unterstützt.
Natürlich erwähnt Berger auch die Polen, die sich unter Einsatz ihres Lebens für ihre jüdischen Mitbürger einsetzen. Die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ehrt 6.620 Polen mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“, das sind immerhin 25,3% aller vergebenen Auszeichnungen. Antisemitismus und Barbarei waren in Polen neben Humanismus und von christlicher Nächstenliebe getragenen Heldentum nebeneinander anzutreffen. Jedes positive oder negative Pauschalurteil greift da zu kurz, resümiert Berger. Mit Zofia Koassak-Szczucka hatte Polen sogar eine antisemitische Judenretterin. Berger: „Zofia Kossak-Szczucka betrachtete Juden als Fremde, als Feinde Polens…Der Aufruf der Schriftstellerin zur Hilfe für die von Massenmord bedrohten Juden schloss folglich deren Bekämpfung zu einem späteren Zeitpunkt nicht aus. Nichts kann krasser das Dilemma der katholischen Gesellschaft Polens“ zum Ausdruck bringen.
Auch nach Kriegsende waren Juden in Polen noch vielfältigen Verfolgungen ausgesetzt, besonders im ehemaligen Ostpolen, weshalb viele nach Westen, in die ehemaligen deutschen Gebiete flüchteten. Hier entfaltete die jüdische Autonomie anfangs große Anziehungskraft, die weltweit Beachtung fand. Reichenbach erlebte eine neue Blüte, die Infrastruktur wurde instand gesetzt, neue Stadtviertel, Industrieanlagen und Parks entstanden, daneben Theater, Schulen, Bibliotheken, Verlage, Zeitungen, sowie Sanatorien für die Überlebenden der Konzentrationslager.
Anfangs standen die Kommunisten dieser Entwicklung positiv gegenüber. Israel war bei den Sowjets als progressiv angesehen, man unterstützte die Wiederkehr jüdischen Lebens.
Die ersten Rückschläge gab es nach den Pogromen in Kielce und andern Städten, die zu einer Auswanderungswelle von Juden aus Polen führten. Die Pogrome bewirkten keine Ernüchterung der polnischen Gesellschaft. Es folgten Ritualmordvorwürfe in vielen Städten, selbst in Warschau. Als Entlastung dient heute in Polen der Mythos, die Pogrome seien gezielte Provokationen des sowjetischen und polnischen Geheimdienstes gewesen. Dafür waren sie aber zu zahlreich.
Das Ende der jüdischen Autonomie bedeuteten die Pogrome aber nicht, trotz des großen Verlustes an Menschen durch Abwanderung.
Das Ende war der Sinneswandel der Sowjets gegenüber Israel und dem Zionismus. Am 21. September 1948 eröffnete der jüdisch-russiche Schriftsteller Ilja Ehrenburg mit einem Artikel in der Pravda die sowjetische antisemitische Kampagne, mit der Behauptung, die Vorstellung eines jüdischen Volkes sei „so lächerlich, wie die Behauptung , jeder der rote Haare oder eine bestimmte Nasenform habe, gehöre einem bestimmten Volk an.“
Auf dem Höhepunkt der Kampagne wurden in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Ländern Todesurteile gegen Juden gefällt und vollstreckt. Nur Polen und die DDR bildeten eine Ausnahme. Jakob Egit, als geistiges Oberhaupt der jüdischen Autonomie wurde erst zur unerwünschten Person, dann zum Staatsfeind erklärt. Um sich zu retten, musste er Selbstkritik üben und bekennen, dass der Gedanke einer jüdischen Autonomie ein „Irrweg“ war, der korrigiert werden müsste.
Es begann damit, dass 1948 der jüdische Pavillon, der für die „Ausstellung der wiedergewonnenen Gebiete“ die jüdischen Erfolge in der geistigen, kulturellen und industriellen Entwicklung der Autonomie präsentieren sollte, abgebaut werden musste. Einige Exponate wurden in der Ausstellung verteilt. Mit der Freiheit für die Juden in Polen war es vorbei.
Jakob Egid zog auch persönliche Konsequenzen. Er ging mit seiner Familie nach Kanada, wo er zu einem unermüdlichen Unterstützer Israels und zu einem hochgeachteten Mitglied der Torontoer Jüdischen Gemeinde wurde.
Von Egids Projekt in Reichenbach, heute Dzierżoniów, gibt es nur noch die Synagoge, die in den Tagen der jüdischen Autonomie die Gläubigen kaum fassen konnte.
Dank Rafael Blau, der mit seinen Eltern in Dzierżoniów lebte, bevor er mit ihnen nach Israel zog, wurde die Synagoge historisch getreu restauriert und wird als Bereicherung der Kulturlandschaft der Region sehr geschätzt. Als Gebetshaus kann sie allerdings kaum noch genutzt werden. Heute leben in der Stadt nur noch vier betagte Juden, in der weitern Umgebung 24 alte Frauen und Männer, zu wenige für einen Minjan, der zehn Gläubige zählen muss, damit ein jüdischer Gottesdienst abgehalten werden kann.
Das jüdische Leben ist damit erloschen. Wie groß der Verlust für Polen ist, kann man ermessen, wenn man sich die hoffnungsvollen Anfänge 1945 betrachtet. Eine verspielte Chance für Europa.