Dreißigster September 1989
Die Bilder gehen um die Welt: Außenminister Genscher verkündet den 4000 Botschaftsbesetzern der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, dass sie ausreisen dürfen. Ein Jubelschrei aus vielen tausend Kehlen antwortet ihm. In Warschau macht Staatssekretär Sudhoff das Gleiche vor den dortigen Botschaftsbesetzern.
Die Menschen, die seit Tagen, zum Teil Wochen, unter unsäglichen Bedingungen in den Botschaften ausgeharrt haben, beginnen ihre letzten verbliebenen Habseligkeiten zusammenzupacken und sich für die Abreise fertig zu machen. Sie erfahren erst nach und nach, dass die Reise sie noch einmal durch die DDR führen wird. Manchen ist das unheimlich. Sie haben Angst, dass die DDR-Behörden sich nicht an ihre Versprechungen halten und die Ausreisewilligen zum Verbleib in der DDR zwingen könnten. Aber sie haben keine Wahl, als auf die Zusagen zu vertrauen und die
Bedingungen ihrer Ausreise zu akzeptieren. In der Nacht fahren die ersten Sonderzüge von Prag über die DDR nach Westdeutschland. Es soll nach Willen der DDR-Regierung ein „einmaliger humanitärer Akt“ sein.
In der DDR wird der Druck der verbliebenen Bevölkerung auf das SED-Regime verstärkt. Die Forderung nach freien Wahlen wird immer lauter erhoben. Inzwischen finden an jedem Abend Veranstaltungen in Kirchen statt. Die Staatssicherheit hat kaum noch genug Kräfte, um alles unter Beobachtung zu halten. Viele Stasi-Leute sind nach Leipzig abkommandiert worden, um dort bei den Vorbereitungen zur Verhinderung der nächsten Montagsdemonstration zu helfen. Im Bezirk Dresden werden alle verfügbaren Sicherheitskräfte entlang der Bahnstrecke zusammengezogen, auf der die Züge mit den Ausreisewilligen aus Prag entlang fahren sollen.