Fünfter Juni 1989
Die Hiobs-Botschaften überschlagen sich. Die Medien im Westen berichten ausführlich von dem Blutbad, das die Kommunisten vor den Augen der Weltöffentlichkeit in Peking anrichten.
Walter Kempowski spricht von „allgemeiner Zermatschung“. Mit Maschinengewehren wird auf die Unbewaffneten draufgehalten. Panzer fahren rücksichtslos in die Menge. Einer bleibt stecken. Die Besatzung wird gelyncht (ARD), nicht gelyncht (ZDF). Letzteres ist wahrscheinlicher, denn die Protestierenden wollten mit friedlichen Mitteln Veränderungen durchsetzen. Keine hörbaren Proteste der 68er-Kämpfer gegen das repressive Regime.
In München demonstrieren Chinesen gegen das Massaker. Sie bleiben unter sich. Die tapfere westdeutsche Friedensbewegung, die gegen Natowaffen auch mal Hunderttausende auf die Straße bringt, schweigt.
In der DDR gibt es Solidaritätsveranstaltungen in den Kirchen. Von der Kirchenleitung wird verlangt, sie solle protestieren. Eine Demonstration vor der Chinesischen Botschaft wird sofort aufgelöst, ehe sie sich richtig formieren kann.
Das Neue Deutschland wertet die Ereignisse in Peking als Niederschlagung eines „konterrevolutionären Aufstands“. Das löst eine Flut von Protestbriefen aus.
Im Ural hat sich ein Zugunglück ereignet. Eine Gasleitung war explodiert, als der Zug vorbeifuhr. Das Ereignis wirft ein Schlaglicht auf die verrottete Infrastruktur in der Sowjetunion. Kempowski staunt vor dem Fernseher über die vorsintflutlichen Rettungswagen und die Bäckermützen der Ärzte. Für die Bevölkerung fehlt das Geld an allen Ecken und Enden. Kein Wunder, denn die Prawda hat soeben enthüllt, dass die Sowjetunion viermal mehr Geld für die Rüstung ausgegeben hat, als offiziell bisher zugegeben. Der Westen reagiert auf diese Enthüllung mit vornehmer Zurückhaltung, das heißt gar nicht.
Der Tod des „Rachegreises“ Khomeini geht in der Nachrichtenlage fast unter. Die um sich schlagenden Klagenden, die den Sarg begleiten, brachten ihn fast zum Umfallen.
Kempowski fragt sich bei diesem Anblick, ob die Blutfontäne im Iran nun abgestellt würde. Peter Härtling wird passend zum Ganzen im dritten Programm nach folgendem Gedicht gefragt:
Blödem Volke unverständlich,
treiben wir des Lebens Spiel.
Gerade das, was unabwendlich,
fruchtet unserm Spott als Ziel.
Er erkennt das „Galgenberg“-Gedicht von Christian Morgenstern nicht.