von Philipp Lengsfeld
Das Wahlergebnis der gestrigen Schicksalswahl ist viel besser als der erste Eindruck, weil es einen klaren Weg nach vorne aufzeichnet. Der lautet: Es wird kein Merkel VI, kein „Weiter so“ geben, ja geben können.
Erst heute früh nach dem Aufstehen habe ich dazu den entscheidenden fehlenden Baustein im vorläufigen amtlichen Endergebnis gesehen: Das BSW verpasst denkbar knapp den im letzten Jahr sicher geglaubten Einzug in den Bundestag und damit wird es nicht zu einer Kenia/Afghanistan-Dreierkoalition kommen.
Die Union unter Führung von Friedrich Merz gewinnt die Wahl, aber ohne Glanz und ohne Grund zur typisch deutschen Partei-Selbstüberschätzung. Das Ergebnis ist mit 28,6% und 208 Mandaten ordentlich, aber nicht nur Dank des neuen Wahlrechts überhaupt kein Durchmarsch. Friedrich Merz hat zwei Optionen für seine Kanzlerschaft: Schwarz-blau mit dem zweiten Wahlsieger AfD hat er kategorisch ausgeschlossen, so bleibt nur schwarz-rot mit dem krachenden Wahlverlierer SPD.
Und diese Konstellation ist für Deutschland nach meiner Einschätzung gut: Schwarz-rot, die kleine „große“ Koalition ist zum Problemelösen verdammt, insbesondere, da sie drei starke, ideologisch eigenständige Kräfte in der Opposition gegen sich hat, die AfD, die Grünen und die Linkspartei.
Die SPD unter Führung von Kanzler Scholz (Wer war das doch gleich? Für die Nennung von Olaf Scholz als Kanzler 2021-24 wird man schon in wenigen Jahren in deutschen Quizshows einen Joker brauchen) hat vom Wahlvolk mit 16.4% ganz klare Marschbefehle bekommen: Weg vom Grünismus, weg vom Merkelismus, hin zu sozialdemokratischer Industrie- und Sozialpolitik.
Die AfD unter Alice Weidel liegt mit 20.8% klar über der must-win-Marke von 20 Prozent und ist der zweite Sieger dieser Wahl, aber bleibt meines Erachtens deutlich unter ihren Möglichkeiten, insbesondere im Westen – im wichtigsten Bundesland NRW kommt der engste Weidel-Vertraute außerhalb von „ihrem“ Land Baden-Württemberg nur auf vergleichsweise magere 16,8% – hier rächt sich meines Erachtens eine Partei-Innen-Fixierung und der fehlende Mut politisch so agil und offen zu agieren, wie es in einem hart umkämpften Markt sonst immer das Charakteristikum der Herausforderer ist. Die AfD-Fraktion hat jetzt 152 MdBs und wird beweisen müssen, dass sie inhaltliche Politik kann. Die „Brandmauer“ als ewige Ausrede für Nichteinfluss ist von heute an Geschichte.
Der dritte Sieger ist die Überraschung, die sich aber in den letzten Wochen angedeutet hat: Die Linkspartei von Jan van Aken und Heidi Reichinnek. Nicht nur, dass die „Operation Silberlocke“ ein voller medialer und öffentlicher Erfolg war: Die Linkspartei hat nicht nur mit Gysi (Berlin Treptow-Köpenick) und Ramelow (Erfurt-Weimar) zusammen mit Sören Pellmann (Leipzig II) die Grundmandatsklausel erfüllt, sondern sie hat mit 8,8% und 64 Sitzen, davon sechs Direktmandate und in Berlin stärkste Kraft nach Zweitstimmen, richtig abgeräumt. Nicht ganz zu Unrecht, finde ich, denn Heidi Reichinnek und Genossen sind voll in die Glaubwürdigkeitslücke durch die „Brandmauer“-Rumgeeierei der anderen linken Kräfte gesprungen und haben eine konsistente, klare linke Programmatik.
Damit kommen wir zu den großen Verlierern dieser Wahl.
Zunächst die Grünen, die mit 11,6% zwar noch zweistellig sind, aber mit Softtalker-Hoffnungsträger Robert Habeck deutlich hinter dem Ergebnis von 2021 liegen. Schwarz-grün und der deutsch-grüne Merkelismus sind der eigentliche Verlierer dieser Wahl – diese „warme Worte, schöne Bilder“-Gesellschaftskonzeption ist krachend an der Realität gescheitert. Deutschland muss die Scherben wegkehren, insbesondere in der Energie- und Migrationspolitik. Robert Habeck tritt ab und die deutschen Grünen, die ja ein europäisches und fast weltweites Unikum sind, werden nach meiner Prognose Teil einer deutschen Parteimarktbereinigung.
Gleiches gilt für die FDP unter Christian Lindner und das BSW unter Sahra Wagenknecht. Das enfant terrible der Bonner Republik und der halbherzige Versuch einer Neugründung in der Berliner Republik sind beide krachend gescheitert. Nach meiner Einschätzung beide aus dem gleichen Grund: Die Parteivereinsrepublik alter Provenienz ist am Ende – kein Mensch braucht einen geschlossenen, intransparenten, durch und durch verfilzten Kleinparteiklub alter Tradition, wie es die FDP unter Lindner war, aber noch weniger brauchen wir eine nominell modern aufgestellte Kraft, die sich aber letztlich nur auf Vertraute von Sahra und deren Mitarbeiter stützt.
Im Schatten dieses Doppeldesasters blieb fast unbemerkt, dass weitere halbgare Versuche ebenfalls grandios scheiterten. Die in Bayern durchaus bedeutsamen Freien Wähler von Hubert Aiwanger erhielten bundesweit 1,5% und kamen nicht mal in die Nähe eines Direktmandats. Bündnis Deutschland und die nur in einzelnen Bundesländern angetretene Basis-Partei und die WerteUnion von Hans-Georg Maaßen, die nur den Antritt in NRW geschafft hat, blieben alle unter der Nachweisgrenze. Man fragt sich wirklich, warum durchaus vernünftige Menschen ihre Zeit plötzlich in einer Weise verschwenden, die man niemandem erklären kann, so bald sie Teil eines deutschen Parteivereinsvorstands sind. Hier bleibt nur anzumerken, dass die Repräsentationslücke im freiheitlich liberal-konservativen Lager auch nach dieser Wahl eindeutig bei 8-12% liegt.
Zum Abschluss möchte ich noch zwei lokale Besonderheiten erwähnen: Es gibt auch im Westen schon zwei blaue Wahlkreise: In Kaiserslautern lag AfD Rheinland-Pfalz-Spitzenmann Sebastian Münzenmaier nur knapp hinter dem SPD-Gewinner, nach Zweitstimmen war die AfD mit 25,9% stärkste Kraft. Ganz ähnlich die Lage in Gelsenkirchen im Ruhrgebiet in NRW: Auch hier ist die AfD bei den Zweitstimmen vorne und die SPD kann das Direktmandat diesmal noch verteidigen. Nicht nur für mich ist dies ein Menetekel für Westdeutschland: Wenn die Probleme nicht angegangen werden, wird die AfD auch im Westen noch viel stärker werden.
Die Hauptstadt Berlin hat wieder den Vogel abgeschossen: Der Sieg der Linkspartei und die knappe Niederlage von CDU-Landeslistenspitzenkandidat Jan-Marco Luczak gegen die Grünen in seinem Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg und die noch knappere Niederlage von Mario Czaja gegen AfD-Mann Gottfried Curio in Marzahn-Hellersdorf sollten eine klare Warnung an CDU-Bürgermeister Kai Wegner sein: Das Wahlvolk schaut ganz genau hin und urteilt gnadenlos. Wenn die CDU nicht liefert (und dazu schnellstens einen pragmatischen Umgang mit der AfD findet), verliert sie Berlin nächstes Jahr an Rot-Rot-Grün und zwar unter Führung der Linkspartei.