Barbara Skarga, die Grande Dame der polnischen Philosophie, ist hierzulande unbekannt. Deshalb bleibt ihr wichtigstes Buch “Nach der Befreiung – Aufzeichnungen aus dem Gulag 1944–1956“ fast unbeachtet. Eine Handvoll Rezensionen im Frühjahr 2024, dem Jahr des Erscheinens, – das war’s. Dabei gehört ihr Buch zu den wichtigsten über den Gulag, das man unbedingt gelesen haben sollte. Es ist auf jeden Fall das scharfsinnigste. Skarga liefert nicht nur Beschreibungen des Gulag-Alltags und berichtet über erschütternde Schicksale ihrer Mitgefangenen, sondern auch Analysen, was das Gefängnisregime bewirken soll. Es geht um die Zerstörung der menschlichen Individualität, das totale Aufgehen in einer Masse, nicht nur im Gefängnis und im Gulag, sondern auch in der Freiheit, die in der Sowjetunion keine war. Mir ist kein anderes Werk bekannt, das die Entstehung des „homo sovieticus“ so schlüssig beschreibt wie Skarga. Gleichzeitig ist es ein Zeugnis, wie Frauen sowjetische Gefängnisse und Lager erlebten und welchen besonderen Härten sie ausgesetzt waren. In einem Abschnitt rechnet Skarga vor, wie sehr das Gulag-System ein wirtschaftlicher Faktor war, ohne den die Sowjetunion in den ersten Jahrzehnten vielleicht bankrott gegangen wäre. Nicht zuletzt ist das Buch von beklemmender Aktualität, weil die Autorin ausführlich das russisch-ukrainische Verhältnis beleuchtet.
Verhaftet wurde Skarga 1944 als Studentin der Philosophie in Vilnius, weil sie als Untergrundkämpferin der Armija Krajowa, der polnischen nicht-kommunistischen Widerstandsarmee gegen die Nazis, eine Gefahr für das Sowjetsystem darstellte. Deshalb wurden die Kämpfer der AK mit aller Härte verfolgt, zum Teil auch ermordet.
Die junge Frau kam nur mit dem Sommerkleid, das sie auf dem Leibe trug, in eine 5 x 2,5 m große Zelle, in die insgesamt 14 Frauen gepfercht wurden. Sie konnten nur sitzen. Als Skarga später in eine größere Zelle verlegt wurde, in der jeder Frau 1,2 Quadratmeter zur Verfügung standen, empfand sie das fast als Luxus. In den ersten Wochen gab es nicht einmal Waschwasser. Man musste einen Teil des Morgenkaffees verwenden, um Gesicht und Körper einigermaßen frisch zu machen. Als die Gefangenen das Recht erkämpft hatten, den Abortkübel, der ausgescheuert wurde, nachdem er entleert war, mit Wasser gefüllt in die Zelle zurückzutragen, verbesserten sich die hygienischen Verhältnisse etwas. Aber es gab keine frische Wäsche und keine Monatsbinden, sodass es in der Zelle nicht nur nach ungewaschenen Körpern, sondern auch nach Menstruationsblut stank.
Die Verhöre wurden nachts geführt, wobei Schlafentzug die bevorzugte Foltermethode war. Skarga hatte insofern Glück, als ihr stellvertretender Vernehmer ihr heimlich zu trinken gab und selbst einschlief, was ihr ein paar Stunden Ruhe verschaffte. Nach Monaten wurde sie zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, die sie erst in einem Lager in Zentralrussland als Krankenschwester, später in der Steppe Kasachstans als Vorarbeiterin in einer Ziegelei verbrachte. Als ihre Strafe abgesessen war, durfte sie nicht nach Hause, sondern wurde zur Zwangsarbeit in ein ostsibirisches Dorf nahe Petropawlowsk verschickt. Erst im Dezember 1956 wurde sie gemeinsam mit anderen AK-Kämpfern „repatriiert“, durfte aber nicht nach Vilnius zurück, das inzwischen sowjetisch war, sondern ging nach Warschau, wo Mutter und Schwester inzwischen lebten. Sie legte eine erstaunliche Nach-Gulag-Karriere hin, beendete erst ihr Studium der Philosophie und wurde die wichtigste polnische Philosophin.
Ihr Buch erschien erst 1982 in einem ausländischen Verlag, unter Pseudonym, mit veränderten Ortsnamen, damit man die Autorin nicht identifizieren konnte. Erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde es in Polen unter ihrem richtigen Namen verlegt. Die deutsche Ausgabe ist eine Übersetzung aus dem Holländischen, weil die polnisch-belgische Philosophin Alicja Gescinska es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Skargas Werk einem größeren Publikum zugänglich zu machen.
Skarga schreibt, dass sie mehr als fünf Jahre für die Niederschrift gebraucht hatte, denn sie musste die Arbeit immer wieder unterbrechen, da sie ihre Erinnerungen zu sehr belasteten.
Es ist eine schwierige Lektüre, obwohl das Buch flüssig und sogar mit einem gewissen Humor geschrieben wurde. Als Gefangene waren Skarga und ihre Haftfreunde übereingekommen, dass sie nach ihrer Freilassung ihre Erlebnisse als Gipfel der Absurdität beschreiben würden. Beim Schreiben stellte sie allerdings fest, dass sie kaum noch über das Erlebte lachen konnte. Zum Beispiel brachte die Geschichte von Professor Mendelejew aus Leningrad seine Zuhörer zum Lachen. Er war ein so renommierter Wissenschaftler, dass er während der Leningrader Blockade eine spezielle Versorgung bekam, sodass er weder hungern noch frieren musste. Vor dem Krieg war er Westreisekader und fuhr zu Konferenzen nach Paris und London. Kurz nach Kriegsende wurde er verhaftet und in monatelangen Verhören nicht nur nach seinen Aufenthalten in Paris und London befragt, sondern auch nach Orten wie Istanbul und Malta, die er nie besucht hatte. Als er endlich einem vierzigjährigen Mann, der deutliche Folterspuren trug, gegenübergestellt wurde, brach dieser in Tränen aus und rief: „Ich bin Sascha“, ein Nachbarsjunge aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. „Ich war überzeugt, Sie seien tot!“ Der Mann hatte sich Geschichten ausgedacht im Glauben, einem Toten nicht zu schaden. Nach dieser Gegenüberstellung war der Professor überzeugt, sofort entlassen zu werden. Ein Irrtum, denn die Behörden waren der Meinung, er hätte zu lange in Untersuchungshaft gesessen. Ihm wurden deshalb fünf Jahre Lagerhaft verordnet.
Ein zweites Beispiel: Eine Jüdin und ihr Mann hatten die Nazizeit in einem Versteck überlebt. Eines Tages gaben die sowjetischen Behörden bekannt, dass man für jüdische Überlebende Flüge nach Palästina organisieren würde, damit sie dort ein neues Leben aufbauen könnten. Das Ehepaar meldete sich, wurde tatsächlich zum Flugplatz gefahren, mit anderen in ein Flugzeug gesetzt, das zwei Stunden in der Luft verbrachte, um dann wieder in Vilnius zu landen. Vom Flugplatz ging es direkt ins Gefängnis und dann in den Gulag. Dutzende solcher Einzelschicksale aufgeschrieben zu haben, ist Skargas großes Verdienst. „Man sollte sie so laut herausschreien, dass jeder die Schreie hören kann.“ Ein paar Schicksale hat Skarga vor dem vollständigen Vergessen bewahrt.
Als Philosophin beschäftigte sie sich mit der Frage nach dem Bösen. Sie hielt, obwohl ungläubig, den Teufel für ein philosophisches Thema. Wenn sie den Kommunismus als teuflisch beschreibt, meint sie keinen metaphysischen Begriff, sondern bildet das Verhältnis zwischen Menschen ab. Das Böse ist für sie nicht das Gegenteil des Guten, sondern das Teuflische am Kommunismus ist die Gleichgültigkeit. Dieser Gleichgültigkeit begegnete sie nicht nur im Lager, sondern auch in der Sowchose. Der homo sovieticus zeichnete sich durch Gleichgültigkeit gegenüber seiner Arbeit aus. Die Tiere der Sowchose waren in einem erbarmungswürdigen Zustand, weil sie täglich 28 Kilometer laufen mussten, um an einem schlammigen See getränkt zu werden. Die artesischen Brunnen, die von den Kulaken angelegt worden waren und ihren Reichtum begründeten, waren von den Sowjets zerstört worden, und niemand dachte daran, sie wieder aufzubauen. Das Getreide wurde auf den Feldern nur teilweise abgeerntet, und vom geernteten Teil verrottete viel auf der Tenne, weil es nicht gewendet wurde. Aber wenn eine Frau dabei erwischt wurde, dass sie die nicht geernteten Halme barg, bekam sie zehn Jahre Lagerhaft. Auf dem Plan stand immer, dass er erfüllt oder sogar übererfüllt wurde. In der Realität herrschte auch in den fünfziger Jahren und später immer mal wieder Hunger. „Diabolisch war die Gleichgültigkeit der Autoritäten, der Machthaber und die Tatsache, dass man letztlich als Mensch gezwungen wurde, immer gleichgültiger zu werden, um noch leben zu können.“ (Gescinska)
Skarga beschreibt die Gefahr dieser Gleichgültigkeit an sich selbst. Was hat sie befähigt, dem zu widerstehen? Die Liebe zu Literatur, Kunst, Musik und Schönheit. Im Gefängnis begann sie, Puschkin im Original zu lesen. „Skarga muss von dem intrinsischen Wert von Schönheit, Kunst, Kultur und Philosophie enorm durchdrungen gewesen sein; dieses Bewusstsein brannte wie ein inneres Feuer, das sie durch die Kälte… dieser Gulag- und Kolchosjahre trug.“ (Gescinska) Jeder Leser sollte sich fragen, welche Werte er mobilisieren könnte, um ähnliche Härten erfolgreich zu bewältigen.
Barbara Skarga: „Nach der Befreiung“, Hoffmann und Campe, 2024
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