Abgrund

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Robert Harris hat seit seinem ersten Erfolgsroman „Vaterland“, in dem er beschreibt, wie Deutschland ausgesehen haben könnte, wenn die Nazis gesiegt und versucht hätten, die Erinnerung an ihre Gräueltaten zu löschen, immer wieder große Themen angepackt. Er schrieb über die Entschlüsselung des scheinbar unknackbaren Nazicodes, den Untergang von Pompeji, die Tyrannei im antiken Rom, die Ermordung des Ghostwriters eines britischen Premiers, den überraschenden Ausgang einer Papstwahl oder die Dystopie über eine Zeit nach dem Untergang der westlichen Welt.

In seinem neuesten Roman wandte Harris sich dem Beginn dieses Untergangs zu, dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der Urkatastrophe der westlichen Zivilisation. Er erzählt die Geschichte anhand einer Liebesaffäre des britischen Premiers Herbert Henry Asquith mit der dreißig Jahre jüngeren Venetia Stanley. Die Handlung beginnt zwei Wochen vor Kriegsausbruch, in einer Welt, in der die herrschende Klasse in England einen Lebensstil pflegte, der mit dem Ersten Weltkrieg untergegangen ist, und niemand daran dachte, dass dieses süße Leben beendet werden könnte. Da ist ein Kronprinz im fernen Serbien erschossen worden, worauf Österreich unerfüllbare Forderungen an den serbischen Staat gestellt hat. Na und? Das wird sich schon irgendwie wieder hinbiegen. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Die irischen Separatisten sind ein größeres Problem für den britischen Premier, das allergrößte aber ist, dass Venetia auf Anweisung ihrer Eltern London verlassen muss, um auf einem fernen Familienlandsitz die nächsten Wochen zu verbringen, bis sie mit der Mutter auf Reisen nach Indien und Australien gehen sollte.

Über Monate von seiner Affäre getrennt zu sein, beschäftigt den Premier mehr als die europäische Katastrophe, die sich anbahnt. Als Österreich Serbien den Krieg erklärt und nach und nach Russland, Deutschland und Frankreich folgen, muss die Regierung entscheiden, ob sich Großbritannien in den Krieg hineinziehen lassen wird. Das Kabinett ist gespalten. Ein Teil unter der Führung von Winston Churchill, der wie sein deutsches Pendant Paul Hindenburg den Krieg als eine Badekur ersehnt, will den sofortigen Eintritt, der andere Teil möchte Großbritannien heraushalten. Während seine Minister stundenlang diskutieren, schreibt der Premier Liebesbriefe. Die Entscheidung, in den Krieg einzutreten, hätte er beinahe verpasst. Asquith begeht noch jede Menge anderer Fehlgriffe. Er schickt seiner Angebeteten geheime Telegramme, Briefe und vertrauliche Entscheidungen. Bei ihren Spazierfahrten am Freitag liest er ihr Dokumente vor, die streng geheim sind, und wirft sie dann zerknüllt aus dem Fenster.

Einige dieser Dokumente wurden von Londonern gefunden und der Polizei übergeben. Allerdings wurde die Untersuchung des Geheimnisverrats vom Außenministerium an sich gezogen und beendet, als alle fünf Geheimnisträger erklärten, sie hätten mit der Sache nichts zu tun. Was Harris beschreibt, ist wirklich geschehen. Die historischen Figuren seines Romans und ihre Handlungen hat es wirklich gegeben, erfunden sind nur wenige Nebenfiguren bei der Polizei. Die Kabinettssitzungen und Politikertreffen hat Asquith in seinen täglichen drei Briefen an Venetia ausführlich geschildert. Solch intime Einblicke in politische Entscheidungsprozesse sind selten. Sie machen fassungslos. Ein Beispiel: Nachdem sich das Schlachtgeschehen in Frankreich als aussichtslos in Bezug auf einen schnellen Sieg erwies, kam Winston Churchill auf die Idee, mit der Flotte die Dardanellen anzugreifen. Er setzte seinen Schlachtplan gegen alle vernünftigen Einwände durch. Es stellte sich aber heraus, dass schon beim Auslaufen des ersten Truppenkontingents nicht einmal Medikamente und Verbandmaterial geladen waren, ganz zu schweigen von ärztlichen Instrumenten. Es ist nur dem entschiedenen Eingreifen von Churchills Frau Clemmie zu verdanken, dass etwas nachgeladen werden musste. Churchill hätte die Flotte losgeschickt, ohne den Fehler korrigiert zu haben. Die erste Schlacht war ein Desaster. Die Briten verloren 36.000 Mann. Daraufhin hätte der Rückzug angetreten werden müssen. Aber da kein Fehler eingestanden werden sollte, wurden immer neue Truppenteile in den aussichtslosen Kampf geschickt. Am Ende kostete die von Anfang an absehbare Niederlage 100.000 Tote, die für Churchills Schnapsidee ihr Leben lassen mussten.

Während der Fleischwolf auf Hochtouren lief – immerhin waren damals im Gegensatz zu heute auch die Söhne hoher und höchster Politiker an der Front –, traf sich die Politik wie in Friedenszeiten zu allabendlichen Dinners, Wochenendpartys und Jagden.

Nur ein paar Frauen scherten aus. Venetia löste sich von ihrem Liebhaber, der am Ende fast zum Stalker wurde, um sich zur Krankenschwester ausbilden zu lassen. Es gab für reiche Mädchen die Möglichkeit, das in einem teuren Dreimonatskurs zu tun. Im Gegensatz zu vielen ihrer Freundinnen und Bekannten hielt Venetia die harte Ausbildung, die in 10-Stunden-Schichten auch das Leeren von Nachttöpfen und das Windeln von schwer verletzten Männern umfasste, durch. Mehr noch, sie bekam höchste Anerkennung von den Oberinnen. Sie verpflichtete sich dann zum Einsatz in einem Feldlazarett in Frankreich.

Venetia ist neben den Politikern, deren Denken und Handeln fassungslos macht, die einzige bewundernswerte, menschliche Figur.
Harris widmet ihr im Roman folgenden Schlusssatz:

„Ich ziehe es vor, Venetias Bild vom Mai 1915 in Erinnerung zu behalten: an Deck der Kanalfähre, das Gesicht im Wind, frei und unabhängig, endlich auf selbstgewähltem Kurs, eine der folgenreichsten Frauen in der politischen Geschichte Britanniens.“

 



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