Bedingt demokratiebereit

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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sträubt sich bisher, trotz fehlender Kanzlermehrheit die Vertrauensfrage zu stellen. Es gäbe noch Dringendes zu erledigen. Da könnte er sogar recht haben, z. B. bei der Regelung zum Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages. – Der folgende Artikel entstand bereits 2018, blieb damals unveröffentlicht und erscheint hier unverändert.

von Jakob Mendel

Bündnis 90/Die Grünen, CDU, CSU, FDP und SPD – hier in alphabetischer Reihenfolge – nennen sich selbst demokratische Parteien und grenzen sich damit von der AfD ab. Zugleich gestehen sie das Attribut auch der eben noch als stalinistisch geschmähten LINKEN zu. Die greift es gern auf, so daß CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen – jetzt entsprechend ihrer Fraktionsgröße im Bundestag sortiert – der AfD unversöhnlich gegenüberstehen und deren Abgeordnetem Wilhelm v. Gottberg, dem ältesten des Hauses, das Alterspräsidentenamt verweigern. Die AfD muß man ebensowenig mögen wie Herrn v. Gottberg, die Sache aber hat es in sich.

Die Tatsachen sind dabei schnell zusammengetragen. Ende März 2017 schlug der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert vor, nicht mehr den ältesten, sondern den dienstältesten Abgeordneten zum Alterspräsidenten zu bestimmen. Der Vorschlag ging an den Ältestenrat und von dort in den Geschäftsordnungs-Ausschuß, wo am 17. Mai 2017 die Mehrheit von CDU/CSU und SPD für eine Änderung stimmte, Bündnis 90/Die Grünen dagegen, und DIE LINKE sich enthielt. Am 1. Juni 2017 stimmte das Bundestagsplenum mit denselben Mehrheiten für die Änderung: CDU/CSU und SPD dafür, Bündnis 90/Die Grünen dagegen, DIE LINKE Enthaltung; die Gegenstimmen Klaus Brähmigs (CDU/CSU), Katrin Werners (DIE LINKE) und Erika Steinbachs (fraktionslos) fielen nicht ins Gewicht. Auch der sich gerade konstituierende 19. Deutsche Bundestag bestätigte am 24. Oktober 2017 – diesmal mit den Stimmen aller Fraktionen außer der AfD – die Neuregelung.

Traditionsbruch

Das ist zunächst ein Traditionsbruch. Seit dem Frankfurter Paulskirchenparlament war stets der älteste Abgeordnete Alterspräsident, seit der Weimarer Nationalversammlung der oder die älteste Abgeordnete. Die Abschaffung des Amtes durch Hermann Göring (1932 Präsident des 7., 1933 des 8. Reichstags) blieb eine Fußnote; Bundestag und Volkskammer – alle Unterschiede einmal dahingestellt – kehrten zur Tradition zurück. Gibt es heute stichhaltige Gründe, von ihr abzuweichen? Sehen wir uns das Amt genauer an.

Der Alterspräsident leitet die konstituierende Sitzung des Bundestages bis zur Wahl des Präsidenten; sobald dieser oder einer seiner Stellvertreter das Amt übernimmt, hat der Alterspräsident seine Pflicht getan. Akademisch ist, daß er eine weitere Sitzung leiten könnte: Sollten in der Tat der Präsident und seine sechs Stellvertreter gleichzeitig verhindert sein? Also eröffnet der Alterspräsident die konstituierende Sitzung, hält traditionell eine vorbereitete Rede, läßt die Abgeordneten namentlich aufrufen und den Präsidenten wählen und setzt sich auf seinen Platz im Plenum. Das dauert, die Pause zum Auszählen der Präsidentenwahl abgerechnet, insgesamt etwa eine und selbst bei unaufschiebbaren Anträgen keine zwei Stunden, von denen die Eröffnungsrede keine halbe einnimmt, aber durchaus launige Bemerkungen enthalten darf.

Panikmache

Gelegentliche Wettrennen der Parteien um den ältesten Abgeordneten und eine gewisse Empfänglichkeit für deren markige Reden an den Rändern des politischen Spektrums tun der Tradition keinen Abbruch: Clara Zetkin (KPD, geb. 1857, 1932 Alterspräsidentin des 6. Reichstags) und Karl Litzmann (NSDAP, geb. 1850, 1932 Alterspräsident des 7. Reichstags) mögen in ihren Eröffnungsreden den Untergang der Weimarer Republik herbeigesehnt haben, verursacht haben sie ihn nicht. Ebensowenig hat es die Würde von Amt und Parlament oder gar die Demokratie beschädigt, daß Stefan Heym (PDS, geb. 1913) 1994 Alterspräsident des 13. Deutschen Bundestages wurde, eher schon, daß die Fraktion der CDU/CSU mit Ausnahme Rita Süssmuths ihm den Applaus verweigerte und daß die Regierung Kohl seine Eröffnungsrede nicht im Bulletin der Bundesregierung veröffentlichen wollte. Beides war unanständig.

Außerdem haben in Landtagen selbst Alterspräsidenten von Republikanern und DVU moderate, teils sogar vom jeweiligen Plenum mit Beifall quittierte Eröffnungsreden gehalten. Falls aber alles schiefgehen und ein Alterspräsident unwürdig auftreten sollte, gibt es immer noch genug Reaktionsmöglichkeiten. Ein paar sind, den Saal zu verlassen, nach der Wahl des Präsidenten Gegenreden zu halten, den nunmehr einfachen Abgeordneten mit Sanktionen zu belegen und – sollte er sich vollkommen danebenbenehmen – den Alterspräsidenten auf der Stelle auszubuhen.

Aktionismus

Der Alterspräsident hat also keine wirkliche Macht, und die offizielle Begründung im Geschäftsordnungs-Ausschuß des Bundestages, die Rechtslage könne nicht die für die konstituierende Sitzung nötige Parlamentserfahrung gewährleisten, war bestenfalls eine Ausrede. Vielmehr war jedem klar, daß es sich um eine Lex AfD handelte, um Wilhelm v. Gottberg bzw. Alexander Gauland als Alterspräsidenten zu verhindern. An entsprechenden Warnungen hat es dann auch weder im damaligen Bundestag noch in den Medien gefehlt; wer immer sich diesen Geschäftsordnungs-Trick zugute hielt oder hält, weil er damit „ein Zeichen gesetzt“ habe, muß sich der Symbolpolitik zeihen lassen: Sieht für die eigene Klientel moralisch aus, ist aber wirkungslos, verschafft dem politischen Gegner einen Märtyrerstatus, beschädigt die demokratische Kultur und untergräbt demokratische Institutionen. Dennoch wurde ohne Not eine Sonderregelung eingeführt, noch dazu eine, die mit heißer Nadel gestrickt war.

Bereits auf den ersten Blick zeigt diese Sonderregelung einen wenig sympathischen deutschen Charakterzug: Lieber eine Vorschrift, auf die man sich berufen kann, als persönliches Engagement, mit dem man scheitern könnte; Kenner deutscher Verhältnisse mögen anfügen: und am liebsten eine Verwaltungs- oder Verfahrensvorschrift. Zugleich offenbart die Lex AfD statt der intendierten Moralität höchst bedenkliche Maßstäbe: Buht man Herrn v. Gottberg aus, wenn er sich als Alterspräsident des Deutschen Bundestages danebenbenimmt, wird er für das gerügt, was er tut. Darf er dagegen nicht Alterspräsident werden, weil er Mitglied der AfD ist, wird er für etwas bestraft, was er ist.

Rechtsunsicherheit

Alterspräsident des Deutschen Bundestages wird nach neuem Recht das am längsten dem Bundestag angehörende Mitglied, das hierzu bereit ist; bei gleicher Dauer der Zugehörigkeit zum Bundestag entscheidet das höhere Lebensalter. Im Zweifelsfall entscheidet also doch wieder das Lebensalter – was soll dann die Änderung?

Außerdem ergibt sich die Frage, was unter „am längsten dem Bundestag angehörend“ genau zu verstehen ist, da Legislaturperioden nicht auf den Tag genau gleich lang sind und Abgeordnete wie der aktuelle Alterspäsident Hermann Otto Solms nicht unbedingt ununterbrochen Mitglieder des Bundestages sind – müssen dann einzelne Tage gezählt werden, um den rechtmäßigen Alterspräsidenten zu ermitteln? Und was, wenn ein Abgeordneter lange krank war oder anderweitig viele Sitzungen versäumte? Doch weiter: Wie viele Ausschußsitzungen wiegen eine Plenarsitzung auf? Gibt es möglicherweise Boni für geleitete Sitzungen, und wenn ja, welche? Führen extensiv ausgeübte Nebentätigkeiten zu Mali, und wenn ja, was ist „extensiv“? Nicht uninteressant außerdem: Wie soll beim Parteiwechsel eines Abgeordneten verfahren werden? Fragen über Fragen und Stoff für viele gewiß interessante Diskussionen.

Schließlich kommt es noch schlimmer: Warum soll zur Parlamentserfahrung nur die im Bundestag zählen? Warum nicht auch die in einem Länder- oder dem Europäischen Parlament? Lag Wolfgang Kubicki (FDP, geb. 1952 und Vizepräsident des aktuellen Bundestages) von 1992 bis 2017 in Kiel wirklich nur in der Tiefkühltruhe? Hat Cem Özdemir (B90/Gr., geb. 1965) von 2004 bis 2009 in Straßburg nichts dazugelernt? Hätte der ehemalige Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU, geb. 1942) genau deshalb keine Chance auf das Alterspräsidentenamt, weil er erst 1987 Mitglied des Bundestages wurde und seine Mitgliedschaft in der Bremischen Bürgerschaft von 1971 bis 1987 durch § 1 Abs. 2 GO-BT ignoriert wird? Insgesamt saß Bernd Neumann länger in deutschen Parlamenten als Wolfgang Schäuble und Hermann Otto Solms – welch glückliche Fügung, daß er 2017 nicht mehr für den Bundestag kandidierte und ihm daher auch nicht mehr angehört.

Verfassungsbruch

Trivial ist, daß man Demokratie und Rechtsstaat mit Sondergesetzen für Einzelfälle keinen Gefallen tut; Gesetze möchten, wie alle anderen Regeln, bitte allgemein gelten. Aber auch hier kommt es noch schlimmer: Wolfgang Schäuble ist seit 1972 Mitglied des Bundestages, ein Ostdeutscher kann das erst seit 1990. Damit ist jeder Ostdeutsche auf Jahrzehnte hinaus davon ausgeschlossen, Alterspräsident des Deutschen Bundestages zu werden. Das ist glatter Verfassungsbruch; Art. 3 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes sagt eindeutig: „Niemand darf wegen […] seiner Abstammung, […] seiner Heimat und Herkunft […] benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Hier geht es um die Heimat, die örtliche Herkunft.



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