Warum tickt der Osten anders?

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Von Peter Schewe

Diese Frage taucht in schöner Regelmäßigkeit immer auf, wenn sich die Tage der Wiedervereinigung und des Mauerfalles jähren. Und immer stellt der ‚Bericht zum Stand der deutschen Wiedervereinigung‘ fest, dass es mit der Angleichung immer noch hapert. Und immer erscheinen dazu wie bestellt eines oder mehrere Bücher.

Dieses Jahr ist es „Ungleich vereint“ von Steffen Mau (edition suhrkamp). Der Soziologe Steffen Mau, gebürtiger Rostocker mit einer Professur für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität Berlin, kommt zu dem Schluss, dass der Osten nicht nur anders ist, sondern es auch noch lange bleiben wird. Eine Angleichung des Ostens an den Westen anzustreben, war und ist seiner Meinung nach die falsche, politische Zielsetzung, man sollte eher die Unterschiede benennen und sie thematisieren und auch darüber nachdenken, was ggf. der Westen vom Osten lernen könnte. Und er benennt natürlich auch, aber nicht nur, die in den 45 Jahren und darüber hinaus sich herausgebildeten Unterschiede in der sozialen und wirtschaftlichen Struktur beider Systeme, die bis heute bestehen und auch nicht so bald verschwinden werden.

Das ist, wie ich meine, ein durchaus plausibler Ansatz. Zwei Aspekte jedoch fehlen mir in dieser Betrachtung. Der eine greift 500 Jahre weit in die Vergangenheit zurück. Es ist die Rolle der Kirchen. Der Norden und Osten Deutschlands ist durch die Reformation geprägt (Der Anteil der Katholiken in der DDR betrug der 5 %), der Süden und Westen durch die katholische Kirche. Sachsen war das Kernland der Reformation, von hier breitete sich der Protestantismus auf ganz Deutschland aus, in den südlichen Breiten behielt die Gegenreformation die Oberhand und mit ihr der Einfluss der Katholischen Kirche.

Protestanten neigen eher zum Protestieren, zur Rebellion gegen die Obrigkeit. Bis 1806 durften die zum Katholizismus konvertierten, sächsischen Könige in ihrer Hofkirche nicht läuten. Sie beugten sich dem Willen der protestantischen Bürgerschaft Dresdens. Protestanten haben keine Angst, durch Rebellieren das göttliche Wohlwollen zu verlieren, ihr Seelenheil ist ihnen per se sicher ohne Beichte und Sühne. Sie hinterfragen eher, was die da oben tun und lassen und zweifeln eher an deren Autorität und Kompetenz. Sie reden mit in den demokratisch verfassten evangelischen Kirchen, in Kirchenvorständen und Synoden. Verstärkt wurde diese Abnahme kirchlicher Autorität  natürlich durch die 90 Jahre kirchenfeindlicher Politik der Nationalsozialisten und der SED-Kommunisten. Die Säkularisierung der Gesellschaft ist dadurch im Osten sehr viel ausgeprägter. Sich der SED-Diktatur zu entziehen, bedurfte es einer inneren Unabhängigkeit und einer größeren Widerstandsfähigkeit gegen Parolen und Lügen. Ich denke, dazu waren und sind Protestanten eher konditioniert.

Katholiken jedoch bringen ihrer Obrigkeit noch heute einen ungleich größeren Respekt entgegen, wie ich hier in Bayern immer wieder erlebe. Pfarrer, Bischof und Papst sind unantastbare Autoritäten, auch wenn deren Einfluss schwindet und sich Widerstand gegen überholte Rituale, wie Zölibat oder Verweigerung des Frauenpriestertums formiert. Das schmerzhafte Knien auf Kirchenbänken, das Bitten um Vergebung durch Reue, Beichte, Sühne und Vergebung, das Ministrieren schon im Kindesalter schaffen eine innere Abhängigkeit und Disziplinierung. Es gehört zum guten Ton, nicht öffentlich zu kritisieren, auch wenn man über manches anders denkt. Man ist eher geneigt, das was von oben kommt, zu akzeptieren und weniger zu hinterfragen. Das eigene Fortkommen ist wichtiger als das, was Politiker tun oder lassen, ggf. öffentlich zu kritisieren.

Dieser Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus wird noch heute im unterschiedlichen Umgang mit dem Sakrament der Ehe (Ehescheidungen) mehr als deutlich.

Der zweite Aspekt betrifft die unterschiedlichen Erfahrungen mit den politischen Verhältnissen. Während wir Ostdeutschen uns mit einer Parteiendiktatur arrangieren und aufpassen mussten, nicht zwischen die Fronten zu geraten und uns durchwurstelten mussten, konnte der Westdeutsche in freier Entfaltung seiner Möglichkeiten sich einen beachtlichen Wohlstand erarbeiten mit der Erfahrung, dass das nächste Jahr besser wird als das vergangene, während der DDR-Bürger die umgekehrte Erfahrung machen musste. 40 Jahre wurde ihm das Paradies Kommunismus versprochen, während die Versorgungslage immer prekärer wurde und der Unterschied zum Westen immer größer. Dieses Gefälle nahm umso mehr zu, als viele im Westen zu Billigpreisen angebotenen Waren (Quelle, Neckermann usw.) im Osten unter unwirtschaftlichen Bedingungen hergestellt wurden. Die inhaftierten Frauen im berüchtigten Gefängnis Hoheneck nähten unter unmenschlichen Bedingungen die Wäsche für Triumph und andere Luxusmarken.

Die Diktaturerfahrung der Ostdeutschen, um die uns so mancher Westler beneidet, was er aber nie zugeben würde, macht sie heute so sensibel für Entwicklungen, die sie schon mal erlebt haben. Wie z. B. eine ideologiegetriebene Wirtschaftspolitik oder die unisono auf ihn einhämmernden, die Tatsachen verdrängenden Medien oder die immer weiter um sich greifende Einengung des Sagbaren wie auch die jüngst durch Herrn Habeck, Frau Faeser und Frau Paus angeordnete, von der Öffentlichkeit aber weitgehend unkommentierte Überwachung der Internetplattformen durch die Bundesnetzagentur. Auch eine Debatte im Bundestag geschweige denn ein Beschluss dazu hat es meines Wissens nicht gegeben.

Wir DDR-ler kannten nur ein Gegenüber, den Staat, egal ob Bürgermeister, Lehrer, Rat des Kreises oder Betrieb: Immer war es der Staat bzw. die Partei (SED), mit der man es zu tun hatte. Diese, die politischen Verhältnisse vereinfachende Sichtweise, denke ich, ist im Osten noch weit verbreitet. Hier im Westen sind es mehr die Personen auf allen politischen Ebenen, mit denen man sich arrangieren oder auseinandersetzen muss. Es gibt nicht diese klare Konfrontation zwischen Individuum und dem Staat.

In einem weiteren Punkt wird sich der Osten noch lange vom Westen unterscheiden. Von dem, was der für die Freien Wähler in den sächsischen Landtag direkt gewählte, ehemalige Oberbürgermeister von Grimma als „westliche Wohlstandsdekadenz“ bezeichnet, ist der Osten noch weit entfernt. 45 Jahre wurde den Ostlern jegliche Vermögensbildung verwehrt, weshalb es auch 35 Jahre später kaum zu vererbenden Vermögen gibt. Dieser Unterschied wird noch lange bestehen bleiben, denn auch der Westen entwickelt sich weiter und fügt dem schon vorhandenen weiteres Vermögen hinzu. Was also die ‚Wohlstanddekadenz‘ betrifft, wird der Osten noch lange hinter dem Westen zurückbleiben.

Es ist beängstigend, mit welchem Tempo wir uns auf das zubewegen, was wir Ostdeutschen in der DDR erfahren und ertragen mussten. Wenn die, die meinen die Macht für immer gepachtet zu haben, sehen, dass andere Kräfte ihnen diese streitig machen könnten, werden alle Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, das Recht auf freie Meinungsäußerung u.a. über den Haufen geworfen. Dann gilt: Alle gegen einen, ungeachtet aller gegensätzlichen politischen Überzeugungen, soweit solche überhaupt noch vorhanden sind. Dass Christen sich anschicken, mit kommunistischen Fundamentalisten gemeinsam zu regieren, ist für mich unfassbar, zumal dies ausgerechnet dort geschieht, wo die SED 40 Jahre unangefochten alle anderen politischen Kräfte ausschaltete. Es ist der erste Schritt in Richtung ‚demokratischer Block‘ und ‚nationale Einheitsfront‘. Wer sich mit ‚Brandmauern‘ einmauert sollte sich nicht wundern, keinen Ausgang zu finden, wenn die Bude brennt.

Man könnte die derzeitige Situation im Osten auch mit der Entwicklung eines Menschen vergleichen:

Wurde der Osten in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung wie ein Kleinkind verwöhnt, gehätschelt und mit viel Geld ruhiggestellt, befinden sich die Ostdeutschen jetzt in der Pubertätsphase und begehren auf gegen Bevormundung und Besserwisserei.

Der Osten wird sich also noch lange vom Westen unterscheiden, daran werden auch alle Ostbeauftragten und deren jährliche Berichte nichts ändern, und vielleicht gelingt es dem Westen auch mal, vom Osten etwas zu lernen. Es muss nicht die totale Anpassung sein, ein wenig aufeinander zugehen und zuhören wäre schon ein Anfang.

Peter Schewe

28.Oktober 2024



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