75 Jahre Grundgesetz

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Von Peter Schewe

Am 24.Mai d.J. fand auf Einladung unseres Bundestagsabgeordneten, Herrn Peter Aumer (CSU), in Regensburg anlässlich des 75-sten Jahrestages der Verabschiedung des Grundgesetzes eine Podiumsdiskussion mit zwei prominenten Gästen, dem langjährigen Bundestagspräsidenten a.D. Prof. Norbert Lammert und dem Verfassungsrichter a.D. Dr. Udo Steinert, statt.

Prof. Lammert spannte den Bogen von der ersten Reichsverfassung von 1871 über die der Weimarer Republik von 1918 bis zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949. Während erstere nur 47 Jahre überlebte, die zweite 1933 nach nur 15 Jahren außer Kraft gesetzt wurde, hat das ‚Grundgesetz‘ genannte Provisorium einer Verfassung immerhin 75 Jahre  auf dem Buckel, Provisorien halten eben länger. Prof. Lammert kam in seiner sehr strukturierten, frei vorgetragenen Rede zu der etwas pointierten und überspitzten Schlussfolgerung, dass die größte Gefahr für eine Demokratie die Wahlen sind. Dabei  bezog er sich natürlich auf das Schicksal der Weimarer Verfassung und auf das derzeitige Erstarken der politischen Ränder von rechts und links, namentlich die Wahlerfolge der AfD.

Wenn auch vielleicht nicht ganz ernst gemeint, folgte hier Prof. Lammert meines Erachtens zwei wesentlichen Fehleinschätzungen der öffentlichen Debatte:

Zum Ersten sind freie Wahlen die Grundlage einer Demokratie, denn nur wenn das, was die Bürger wollen (wählen) auch in praktische Politik umgesetzt wird, bleibt das Prinzip der Demokratie gewahrt. Prof. Lammert setzt hier Demokratie mit dem Machtanspruch der sich selbst als etabliert ernannten Parteien gleich. Nur dieser kann durch Wahlen in Frage gestellt und sogar beendet werden. Zu meinen, die Demokratie sei nur gesichert, wenn die drei bzw. vier Parteien, die in den vergangenen Jahrzehnten die Politik der BRD bestimmten, weiterhin regieren können, steht einem wesentlichen Element der Demokratie entgegen: Der zeitlich begrenzten Machtzuteilung durch den Souverän.

Hier vermisste ich auch einen Hinweis auf die vierte auf deutschem Boden existierende Verfassung, die der DDR von 1949. Auch sie schrieb die demokratischen Prinzipien fest und trotzdem veränderte sich die DDR in das Gegenteil einer Demokratie, in eine Diktatur. Sie wurde auch nie öffentlich kommuniziert, nicht mal im Staatsbürgerkundeunterricht. Man hielt sie unter Verschluss, da die politische Wirklichkeit sich mit ihr nicht mehr in Einklang bringen ließ und ein Kontrollorgan, dies ggf. zu korrigieren, gab es sowieso nicht. Die 1968 per Volksentscheid geänderte Fassung schrieb die führende Rolle nur einer Partei, der SED für alle Zeiten fest, ähnlich wie es 1933 der Deutsche Reichstag der NSDAP und ihrem Führer mit der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetzt einräumte.

Und hier sind wir beim zweiten Punkt, in dem Herr Prof. Lammert die historische Wahrheit dem Zeitgeist ‚anpasste‘. 1933 besaß die NSDAP im Reichstag keine verfassungsändernde Mehrheit, sondern nur 44 %. Nur dadurch, dass alle anderen Parteien, außer der SPD, für das Ermächtigungsgesetz stimmten, kam die notwendige Mehrheit (68,6%) zustande und die Weimarer Republik war Geschichte. Vor allem die katholische Zentrumspartei  und die Deutsche Nationale Volkspartei (DNVP) betätigten sich als Totengräber. Auch die 5 Abgeordneten der liberalen Deutschen Staatspartei (DStP) stimmten für die Abschaffung der Demokratie, hierunter die späteren Bundespolitiker Theodor Heuss, Ernst Lemmer und Reinhold Maier. Natürlich darf man nicht vergessen, dass die Nationalsozialisten mit ihren Schlägertrupps von SA und SS die Abgeordneten einschüchterten und diese um ihr Leben und das ihrer Familien fürchten mussten. Die 85 Abgeordneten der KPD waren bereits verhaftet und nahmen an der Abstimmung nicht teil.

Die Gefahr, dass nur eine Partei, selbst wenn sie die stärkste Fraktion stellt, die Verfassung gefährdet oder ganz abschafft, sehe ich heute nicht. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass CDU oder FDP dem zustimmen würden. Der Vergleich mit 1933, der ja immer wieder bemüht wird, die Bedrohung der Demokratie durch die AfD zu beschwören, geht ins Leere. Das Erstarken der AfD bedroht nur den Alleinherrschaftsanspruch der die alte Bonner Republik prägenden Parteien und Bündnisse. Je mehr diese versuchen, die AfD und deren Wähler auszugrenzen durch Verbote, Brandmauern oder ähnlichen undemokratischen Angriffen und damit das Wahlvolk weiter spalten, je mehr Wähler werden sich gegen diese, den Rechtsstaat missachtenden Kräfte wehren. Auch Trotz ist eine Motivation.

Ein anderes Thema sprach der Verfassungsrichter a.D., Herr Steinert, an: Die Aufblähung des Grundgesetzes über die 75 Jahre. Kam die Urfassung (die für jeden Gast bereit lag) noch mit 10.500 Worten aus, so umfasst die jetzige nach über 70 Änderungen und Ergänzungen schon über 23.000 Worte. Dem Grundgesetz ergeht es nicht anders als uns: Mit fortschreitendem Alter setzt der Körper Speck an, wie bei einem Baum kommt jedes Jahr ein neuer Ring hinzu. Und nicht nur die Verfassung ist gewachsen, mit ihr auch der Rechtsstaat, mit immer neuen Gesetzen und Verordnungen und mit ihnen auch der Verwaltungsapparat. Die Bürokratie droht inzwischen, jede unternehmerische Aktivität im Keime zu ersticken.

Nur wenige Artikel haben die 75 Jahre ohne Änderung überdauert, so auch der die Wahlen regelnde Art. 38 (außer der Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre). Während also das Aufblähen des Grundgesetzes von beiden beklagt wurde, bedauerte Prof. Lammert, dass der Art. 38 nicht schon längst dem Bundeswahlgesetz mit Erst- und Zweitstimme, mit der 5% Klause, den Überhang und Ausgleichsmandaten, der Parteienfinanzierung mit öffentlichen Geldern angepasst wurde. Aber warum sollte man das Grundgesetz ändern, wenn es so auch geht, denn in besagtem Artikel steht: „(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz“, übrigens die häufigste Klausel dieses Grundgesetzes.

Bleibt zu hoffen, dass die anhängigen Klagen der CSU und der Linken, übrigens einer bemerkenswerten Schicksalsgemeinschaft, gegen die jüngste Wahlrechtsreform beim Bundesverfassungsgericht zu einer Prüfung führen, inwieweit das Bundeswahlgesetz überhaupt noch grundgesetzkonform ist.

Während man sich hier im Wohlgefühl einer 75-jährigen Erfolgsgeschichte badet, stellt sich bei mir ein Phantomschmerz wie nach einer Amputation ein. 40 Jahr blieben mir als Ostdeutscher die im Grundgesetz verbrieften Freiheitsrechte verwehrt, das Recht auf Meinungsfreiheit, auf freie Berufswahl und freie Wahl des Wohnortes, auf die Freiheit, Bücher zu lesen, die mich interessierten und die mir vorenthalten wurden. Uns Ostdeutschen fehlen diese 40 Jahre und alles Versäumte kann man auch in 35 Jahren nicht nachholen. Und so bleibt nur dieses Gefühl einer geistigen Amputation.

Auf die Frage, warum 1990 in Anwendung des Art. 146 nicht eine neue, gesamtdeutsche Verfassung entworfen wurde, antwortete Prof. Lammert lapidar, eine solche gäbe es wohl bis heute noch nicht. Außerdem hätte die erste frei gewählte Volkskammer der DDR den Beitritt zum Grundgesetz beschlossen und damit kam der Art. 146 nicht zur Anwendung. Er bedauerte aber, dass es nie eine Volksabstimmung über dieses Grundgesetz gab, weder 1949 noch 1990. Er schätzt, dass es 1990 eine große Zustimmung gegeben hätte und damit das Grundgesetz in den Rang einer Verfassung hätte befördert werden können und die Ostdeutschen sich so eher mit diesem Grundgesetz hätten identifizieren können, als das Gefühl, etwas übergestülpt bekommen zu haben.

Regenstauf, den 16.06.2024



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