Großstädter neigen dazu, besonders was die Kultur betrifft, auf die Provinz herabzusehen, in dem trügerischen Gefühl, nur in den Metropolen gäbe es hochwertige Inszenierungen. Das war schon immer ein Irrtum, aber er hält sich hartnäckig und muss immer wieder widerlegt werden.
Jüngstes Beispiel sind zwei Inszenierungen von Puccinis schwierigem Alterswerk Turandot an der Staatsoper Berlin und bei den Thüringer Schlossfestspielen in Sondershausen.
Letztere ist eine Stadt mit großer Musiktradition, die von keinem Geringeren als Franz List bewundert wurde, der hier mehrere Konzerte gab und länger in der Stadt verweilte. Das hiesige Lohorchester, im Jahre 1619 gegründet und damit das älteste Berufsorchester Deutschlands, besticht bis heute mit hoher künstlerischer Qualität. Das Theater der im benachbarten Nordhausen hat nach einer längeren Durststrecke unter verschiedenen Intendanten nach Übernahme der Intendanz durch Daniel Klajner eine künstlerische Qualität gewonnen, die keine Vergleiche zu scheuen braucht.
Auch wenn ich eine Freundin der Staatsoper bin und die meisten Aufführungen sehr schätze: Die Premiere von Turandot wurde in Berlin durch mangelnde Choreografie regelrecht verstolpert. Dem Musikkritiker, der mir das erzählte, konnte ich nur empfehlen, die Schlossfestspiele in Sondershausen zu besuchen. Hier stimmte bei der Choreografie (Luca Villa) alles, obwohl in die Aufführung Damen aus dem Karnevalsverein Grün Weiß als weibliche Garde der Turandot eingebunden waren. Das Zusammenspiel von Sängern, Chor, Orchester und Statisten dieser Inszenierung (Benjamin Prins) ist einfach perfekt. Zum Gelingen trägt das grandiose Bühnenbild (Wolfgang Kurima Rauschning) bei, das gekrönt wurde von der Idee den chinesischen Kaiser als Drachen über dem Ganzen schweben zu lassen. Selbst der Einsatz des Kinderchores, der die Ankündigungen des Drachen untermalte, kam auf den Punkt. Wer glaubte, dass dies mit einer Tonkonserve sicher gestellt wurde, fand seinen Irrtum spätestens beim Schlussapplaus heraus, wo auch die Kinder auf die Bühne kamen.
Von der Kostümbildnerin Birte Wahlbaum weiß man, dass sie immer hervorragende Arbeit leistet. Diesmal hat sie sich aber selbst übertroffen. Ob die blauen Gewänder der Wache, die roten Clownskostüme der Minister, die an die chinesischen Terracotta Krieger erinnernden Gewänder der Pekinger, die auf den ersten Blick gleich, beim genaueren Hinsehen im Detail unterschiedlich waren, die annonnenhaften Kleider der Weisen – sie machten aus der Inszenierung ein Fest für die Augen. Der Höhepunkt war die leuchtend blaue Robe von Turandot, auf deren Rock die Köpfe der bereits hingerichteten Bewerber prangen.
Selbst die Nebenrolle des zur Hinrichtung geführten persischen Prinzen war so ausgestattet, dass an seiner königlichen Abkunft keinerlei Zweifel aufkommen. Dazu trägt die stolze Haltung und der elegante Gang von Mohammad Yousufi bei.
Puccinis letzte Oper war eine schwierige Geburt. Er suchte lange nach einem Sujet, entschied sich dann für den aus einer persischen Sage entstammenden Turandot-Stoff. Die chinesische Prinzessin, die ihren Bewerbern drei Rätsel aufgibt und das mit der Forderung verbindet, dass hingerichtet werden soll, wer die Rätsel nicht löst, ist eine der schillernsten Figuren der Literatur und der Oper. Erschwert wird die Deutung von Puccinis Sichtweise dadurch, dass er die Oper nur bis zur Sterbeszene der Skalvin Liú fertiggestellt hatte und der Komponist Franco Alfano, ein Freund Puccinis, die Vollendung aus den hinterlassenen Skizzen übernehmen musste.
Auch die Sondershäuser Aufführung warf die Frage auf, wer Turandot eigentlich war, die sich selbst eine Tochter des Himmels sah und aus ihrer Jungfräulichkeit ein Dogma machte. Eine brutale Eiskönigin oder eine eher unglückliche, in ihren Zwangsvorstellungenund Ängsten befangene Frau? Was den tatarischen Prinzen Calàf an ihr faszinierte, ist weniger schwer zu erraten. Neben ihrer Schönheit ist es die Aussicht auf Wiedererlangung der Macht, die seinem Vater Timur genommen wurde.
In der großen Auseinandersetzung zwischen Turandot (Hye Won Nam) und Calàf (Kyounghan Seo) endet Turandot als die Besiegte. Beide Hauptdarsteller meistern die schwierigsten Partien mit Bravour. Kyounghan Seo hat mit seiner Interpretation des Nessum Dorma bereits in den Konzerten zur Corona-Zeit das Publikum begeistert. Er wiederholt nun den Triumph auf der Bühne.
Ein besondereres Erlebnis sind die drei Minister Ping (Florian Tavic) Pang (Marian Kalus) und Pong (Jasper Sung), die nicht nur stimmlich, sondern bis ins Pantomimische überzeugen. Für sie gab es am Schluß die ersten Bravo-Rufe. Auch Thomas Kohl als Timur riß das Publikum hin, die zweiten Bravorufe waren die Belohnung. Bei aller Brillanz der Hauptfiguren, meine Favoritin war Mariya Taniguchi als Sklavin Liú. Sie war mit ihrer Liebserklärung an Calàf so bewegend, das ich unwillkürlich wider besseren Wissens wünschte, der tatarische Prinz würde, davon überwältigt, von der chinesichen Prinzessin ablassen und mit Liú das Weite suchen. Aber natürlich hatte die Sklavin keine Machtoption zu bieten.
Nach der überaus gelungenen Premiere ist Turandot nur zu wünschen, dass es auch der Publikumserfolg wird, den sie verdient.
Nächste Vorstellungen: 16., 21., 23., 30. Juni, 5.,12., 14., Juli
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