Wer sich heute über den rauen Umgang mit vom Mainstream abweichenden Meinungen wundert und meint, dies wäre ein Auswuchs der heutigen woken Intoleranz und es hätte so etwas früher nicht gegeben, der irrt sich gewaltig. Auch im Preußen von Friedrich dem Großen, in dem tatsächlich jeder nach seiner Facon selig werden konnte, gab es schon das, was heute Hass und Hetze genannt werden würde, wenn es denn von rechts käme. Eine Kostprobe gefällig?
Ein Hallenser Blättchen meldete am 12. Juli 1779:
„Dr. Bahrdt ist in die Stadt gekommen, der Pritschenmeister, der Eselskopf und Grillenfänger. Gott helf uns wider diesen Kritikaster und Verderber aller Sitten. Denn stellt euch vor: Kaum war dieser ewig schwatzende Klügling da, da hieben die Studenten das Schwarze Brett beim Rektor klein und fein […] Sie gingen auch am hellen Tag mit bloßem Hintern durch die Gassen. An heißen Tagen haben das die Bürger bequem gefunden und es nachgemacht.“
Man sieht, Geschichten erfinden, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, ist kein Alleinstellungsmerkmal von correctiv.
So manche Hallenser werden Ausschau nach den nackten Hintern gehalten und sich gewundert haben, dass sie ihrer nicht ansichtig wurden. Aber die Geschichte genügte, um dem Neubürger mit äußerstem Misstrauen zu begegnen.
Die Rede ist von Karl Friedrich Bahrdt, der als bekannter Freigeist abstritt, dass die Bibel das geoffenbarte Wort Gottes enthielt und der meinte, Jesus sei nur ein Mensch gewesen, ein guter zwar, aber mehr nicht. Der angebliche Gottessohn hätte nichts anderes gesagt als Sokrates 400 Jahre vor ihm. Stärkster Toback! Er delegitimierte die Kirche, wie heutige Freigeister den Staat delegitimieren, wenn sie die Regierung kritisieren. Bahrdt wurde von der Geheimpolizei beobachtet, wie heute die vermuteten Gegner der einzig wahren Klimareligion oder der unkontrollierten Einwanderung. Im Heiligen Römischen Reich war über Bahrdt bereits die Reichsacht verhängt worden. Die galt am Vorabend der Französischen Revolution noch und bedeutete, dass jeder den Mann ungestraft schlagen und berauben, ja sogar töten konnte. Friedrich der Große half, indem er dem angeblichen Ketzer in seinem aufgeklärten Land Schutz bot. Zwar nicht in Berlin, wie Bahrdt gehofft hatte, aber in Halle, das damals die renommierteste Universität im deutschsprachigen Raum beherbergte.
So turbulent, wie Bahrdts Leben vor seinem Exil verlaufen war, so ging es in Halle weiter. Der Mann, der darauf bestand, dass Denken ein Menschenrecht und die freie Rede notwendig ist, wie die Luft zum Atmen, war wahrscheinlich die kontroverseste Figur in der Stadt. Er hielt Vorlesungen und scharte die Studenten um sich, bis er rausgeworfen wurde, er schrieb zahllose Bücher, die zum Teil Bestseller wurden, er erwarb einen Weinberg über Halle und eröffnete eine Schankwirtschaft, in der sich die Freigeister trafen, disputierten, sangen und soffen. Er gründete eine eigene Loge, die Deutsche Union, der sogar Elisa von der Recke angehörte, weil selbstverständlich Frauen zugelassen waren. Er rief die „neuen“ politischen Lesegesellschaften ins Leben, die sich über ganz Preußen und darüber hinaus ausbreiteten, kurz, er war ein A-Prominenter seiner Zeit, zu dem Größen wir Heinrich Heine und Johann Wolfgang Goethe Stellung bezogen. Nach seinem Tod wurde er schnell vergessen, aber sein Credo ist bis heute aktuell:
„Die Freiheit, seine Einsichten und Urtheile mitzutheilen ist eben wie die Freiheit zu denken ein heiliges und unverletzliches Recht der Menschheit, das als allgemeines Menschenrecht über alles Fürstenrecht erhaben ist.“
Dieses Wort sollte auch für unseren heutigen Neuadel gelten.
An diesen kühnen Denker erinnert zu haben ist das Verdienst von Michael Pantenius, der Bahrdt ein kurzes, sehr unterhaltsames und lehrreiches Büchlein widmete. Ob Bahrdt auch ein angenehmer Mensch war, daran habe ich meine Zweifel. Als seine Lieblingstochter im Sterben lag, spielte er im Nebenzimmer Karten. Er unterbrach das Spiel nur kurz, um an ihr Totenbett zu treten. Seine Verdienste im Kampf gegen die Tyrannei sind dennoch unbestritten.
Michael Pantenius: „Denken ist ein Menschenrecht“