Die absolutistische Anmaßung des Staates am Beispiel der Landwirtschaft

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Von Herbert Ludwig

Die Protestdemonstrationen der in existenzielle Nöte getriebenen deutschen Bauern machen wieder das grundsätzliche Problem der staatlichen Entscheidungskompetenz offenbar. Kann der demokratische Staat, dem nach dem Grundgesetz die Souveränität des freien, selbstbestimmten Bürgers zugrunde liegt, das Recht haben, über die Fachkompetenz der freien Bauern hinweg deren Lebens- und Arbeitsbereich von außen zu gestalten? Es gibt dazu kein sachlich begründbares Recht. Es ist die gewohnheitsmäßige Anmaßung eines tradierten Obrigkeitsstaates, der hinter formaldemokratischer Fassade vormundschaftlich weiterwirkt und die Wandlung zur freiheitlichen demokratischen Gesellschaftsordnung hier überhaupt noch nicht vollzogen hat.

Dieser anmaßende despotische Anspruch staatlicher Reglementierung der bäuerlichen Tätigkeit inmitten einer „freiheitlichen demokratischen Gesellschaftsordnung“ ist auch auf die europäische Ebene übertragen worden. Die 1957 gegründete „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG), Vorläuferin der EG und der heutigen EU-Krake, war in Wahrheit keine Wirtschafts-, sondern eine Staatengemeinschaft mit der historischen Anmaßung, die Wirtschaft nicht nur im eigenen Land, sondern europaweit zu reglementieren.

Im Dezember 1968 legte der damalige Agrarkommissar und Vize-Kommissionspräsident, der Niederländer Sicco Mansholt, den EWG-Staaten einen Plan vor, der im Kern vorsah, die durchschnittliche Wirtschaftsfläche eines Bauernhofes, die in der EWG 11 Hektar betrug, auf 80 bis 100 Hektar zu erhöhen, um industriellen Großbetrieben den Weg zu bereiten. Dies sollte durch gezielte strukturpolitische Maßnahmen erreicht werden, indem beispielsweise Bauern, die Milchwirtschaft mit weniger als 60 Kühen betrieben, künftig keine Zuschüsse mehr erhalten sollten.

Damit sollte die Halbierung der Beschäftigtenzahl in der europäischen Landwirtschaft bis zum Jahr 1980 einhergehen. Vier Millionen Bauern, Landarbeiter und Familienangehörige sollten eine staatliche Pension erhalten, wenn sie ihre Betriebe aufgaben; eine Million sollte durch Umschulungsmaßnahmen für die Arbeit in anderen Wirtschaftssektoren qualifiziert werden.1

Der Plan wurde zwar wegen starker Proteste damals so nicht umgesetzt, blieb aber unter der Oberfläche Leitlinie auch der EU-Landwirtschaftspolitik.

Doch woher ziehen Mansholt & Co. das Recht, den Bauern, die zum Souverän der Demokratie gehören, solche Maßnahmen zu diktieren? Es gibt kein solches Recht mehr.

Die Demokratie beruht darauf, dass jeder mündige Mensch die Fähigkeit zur Wirklichkeits- und Wahrheitserkenntnis hat und daraus seine beruflichen Tätigkeiten frei entfalten und sein Leben selbst bestimmen kann. Darin sind alle mündigen Menschen einander gleich. Die Zeit des Untertanen ist vorbei. Die Bauern haben für die Landwirtschaft durch Landwirtschaftsschulen und Erfahrung ihre Sachkenntnisse und Fähigkeiten, viele haben an einer Universität Agrarwissenschaft studiert. Diejenigen, die über sie entscheiden, sind in der Regel völlig unwissend. Und auch wenn einzelne, wie Mansholt akademisch ausgebildete Landwirte sind, berechtigt sie das nicht, anderen gleichermaßen ausgebildeten Bauern ihr Handeln vorzuschreiben.

Jede hierarchische Überordnung Einzelner, die anordnen, was die Anderen in einem bestimmten Lebensbereich zu tun haben, ignoriert das unantastbare Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und ist eine ungeheure Überhebung, Anmaßung und Hypertrophie des eigenen Ego, aus der Größenwahn und finsterer Machttrieb aufsteigen. Hier ist die seelische Ursache der Diktatur Einzelner und ihrer oligarchischen Formen bis zum Totalitarismus, die sich hinter formaldemokratischer Fassade entwickeln können, weil ein solcher Herrschaftsanspruch des Staates noch immer weitgehend unreflektiert aus vordemokratischen Zeiten über das Wirtschaftsleben aufrecht erhalten wird.

Heute kann es nur darum gehen, dass die Landwirtschaft – und die Wirtschaft überhaupt – der staatlichen Eingriffsmöglichkeit entzogen werden und eigene Selbstverwaltungs-Organisationen bilden, in denen die Tätigkeiten der freien Bürger durch Vereinbarungen horizontal koordiniert und gesamtgesellschaftlich sinnvoll aufeinander abgestimmt werden. Der Rechtsstaat hat nur noch die Aufgabe, rechtliche Rahmenbedingungen zu setzen, die Monopol- und Vormachtstellungen verhindern, soziale Gerechtigkeit garantieren und die Grundrechte des Einzelnen schützen. Davon sind wir noch immer weit entfernt.

Der Deutsche Bauernverband könnte, parteipolitisch bereinigt, Ansatzpunkt sein, eine Selbstverwaltungsorganisation der Landwirtschaft innerhalb der Gesamtwirtschaft aufzubauen.

Nachwirkender Absolutismus

Ein kurzer Blick in die Geschichte des staatlichen Herrschaftsanspruches zeigt seine Herkunft und seinen Charakter:

Nach dem Beginn der Neuzeit wurden die Fürsten immer weniger als von „Gott Begnadete“ anerkannt, worauf sie ein überlegenes Wissen und ihren Herrschaftsanspruch gegründet hatten. Jeder Mensch fühlte sich zunehmend selbst in der Lage und berechtigt, zu den benötigten Erkenntnissen für ein sinnvolles Handeln zu kommen. Der Anspruch des „Gottesgnadentums“ war hohl geworden, hielt sich aber noch lange auf dem Thron. Seine Herrschaft war jedoch geistig entleert und zur äußeren Macht geworden, die aus dem nackten Egoismus genährt wurde und sich nur mit Gewalt behaupten konnte.

Und auf den Egoismus hat Machiavelli (1469 – 1527) seine Theorie vom Staat gegründet, die ungeheuren Einfluss auf die Entwicklung des modernen Staates bis heute genommen hat. Er meinte, dass die Menschen von Natur aus schlecht seien und es auch unveränderlich blieben, da es keine fortschreitende Entwicklung in der Menschheitsgeschichte gebe, sondern nur einen ewig sich wiederholenden Kreislauf. Die Konsequenz daraus war für ihn der zum Prinzip erhobene Egoismus, der notwendig das Regieren des Fürsten bestimme. Und das egoistisch-kluge politische Handeln unterscheide prinzipiell nicht zwischen guten und üblen Mitteln, sondern setze beide ein, je nach ihrer Zweckmäßigkeit für den erstrebten Erfolg, die Sicherung und Erweiterung der äußeren Macht.

Der Historiker Karl Heyer konstatierte, für Machiavelli sei Staats-„Zweck“ die Macht um ihrer selbst willen. Dazu gehöre die Bildung eines starken, geschlossenen, wohlgeordneten Einheitsstaates, der alle Lebensbereiche umfasse und auf Zentralisation beruhe. Das Schwergewicht liege aber bei ihm nicht auf diesen Zielen, sondern auf den Mitteln des politischen Handelns. Zu denen gehörten auch Unmoralität und Verbrechen aller Art als durchaus „legitime“ Methoden: Lüge, Betrug, List, Täuschung, Verrat, Treubruch, Gewalttätigkeiten, existenzielle Vernichtung anderer Menschen bis zum geheimen Mord. Auch die „guten“ Mittel würden nur aus Egoismus angewandt: so fördere der Fürst die Untertanen nicht um ihrer selbst willen, sondern weil er an ihrer Wohlfahrt, ihrer Zufriedenheit usw. ein egoistisches Interesse habe.2

Was in Italien in der Renaissancezeit mehr punktuell begonnen hatte, wurde insbesondere in Frankreich in systematischer und planmäßiger Weise auf breiterem Boden ausgebaut und weitergeführt. Es erreichte einen Höhepunkt im Absolutismus Ludwig XIV. (1643-1715). Dessen Egoismus steigerte sich in einem solchen Maße, dass sich sein Ich gleichsam zu einer eingebildeten „Sonne“ aufblähte, die alles im Staate bescheine, das gesamte Leben des Volkes, die Kultur und das damalige merkantilistische Wirtschaftsleben umschloss und für die eigene Macht instrumentalisierte und zentral lenkte.

Der „Sonnen-König“ sah sich und seinen Willen mit dem Ganzen des Staates als identisch an („L´etat c`est moi“ = „Der Staat bin ich“) – ein schon psychiatrischer Größenwahn. Vom staatlichen Zentrum aus wurden alle drei sozialen Lebensgebiete, das rechtliche, wirtschaftliche und das geistig-kulturelle, ergriffen und zu einer straffen, militanten Einheit zusammengeschweißt.

Aber die absolutistische Staatsentwicklung bei Ludwig XIV. war nur ein besonders signifikantes und imposantes Beispiel des egoistischen Machtanspruches; er herrschte damals in allen Fürstenstaaten Europas überhaupt. 3

Im Zuge der Französischen Revolution von 1789 wurden die absoluten Fürsten sukzessive gestürzt und die staatliche Herrschaft auf Abgeordnete des Volkes, die sich in Parteien organisierten, übertragen. Der Einheitsstaat mit seiner Allmacht über alle Lebensgebiete ist jedoch im Wesentlichen beibehalten worden – bis heute. Das ist das grundlegende Problem dessen, was heute Demokratie genannt wird, in der die Herrscher wechseln, aber das Herrschen Weniger über das Volk geblieben ist. Hinter formaldemokratischer Fassade besteht daher heute noch keine wirkliche Demokratie, sondern eine Parteien-Oligarchie, wie der Philosoph Karl Jaspers den Deutschen bereits 1965 eindringlich, aber vergeblich vorgehalten hat.4

Wirksamer Machiavellismus

Die Staatstheorie Machiavellis, dass auch Unmoralität und Verbrechen aller Art als durchaus „legitime“ Methoden politischen Handelns zu den Mitteln staatlicher Macht gehören, wirkt nicht nur fort, sondern hat heute ungeheure Ausmaße erreicht. Noch nie wurde von den herrschenden Parteipolitikern und ihren medialen Lautsprechern so viel gelogen und getäuscht, diffamiert und verleumdet, das Bewusstsein der Menschen durch Propaganda, Angst- und Panikmache manipuliert und in Illusionen gehüllt, wie es vor und in den beiden Weltkriegen  der Fall war und jetzt z.B. auch im Corona- und Klimakrieg gegen die eigene Bevölkerung praktiziert wird.

Und wir sehen in der Landwirtschaft5, wie die kleinen und mittleren Bauern mit direkten und indirekten Maßnahmen gezielt in existenzielle Not und vielfach in den Tod getrieben werden. Die Selbstmordrate unter europäischen Landwirten ist nach Studien erheblich höher als in der übrigen

Bevölkerung.6  Das sind verbrecherische Methoden im Sinne Machiavellis.

Die Brutalität des rücksichtslosen Egoismus treibt den Machtpsychopathen, das Tier im Menschen hervor. Es ist denn auch überwiegend ein ganz bestimmter Menschenschlag, der in die politischen Parteien, die Brutstätten des Egoismus, und an die Schaltstellen der Macht strebt. Es ist die Auswahl der Schlechtesten. –

 

Der peruanische Nobelpreisträger für Literatur, Mario Vargas Llosa, der 1987 als Präsidentschaftskandidat für drei Jahre in die Politik ging, bringt seine hautnahen Erfahrungen allgemeingültig auf den Punkt:

„Sie können die hehrsten Ideen haben, aber sobald es an deren Verwirklichung geht, sind Sie Intrigen, Verschwörungen, Paranoia, Verrat und Abgründen an Schmutz und Niedertracht ausgesetzt. Wenn ich eins über den Morbus der Politik gelernt habe, dann dies: Der Kampf um die Macht lockt die Bestie in uns hervor. Was den Berufspolitiker wirklich erregt und antreibt, ist das maßlose Verlangen nach Macht. Wer diese Obsession nicht hat, wird der kleinlichen und trivialen Praxis der Politik angeekelt den Rücken zukehren.“ 7

Das könnte, bis auf den letzten Satz, auch Machiavelli geschrieben haben. Und es besteht im Grunde kein Unterschied zwischen dem Wahn Ludwig XIV. „Der Staat bin ich“ und der Hypertrophie der Parteien, die sich den Staat zur Beute gemacht haben und sich mit ihm identifizieren. Die totale Macht in der Hand des absolutistischen Fürsten findet ihre Parallele im Parteiensystem, das die Gewaltenteilung de facto aufhebt und alle Macht in der Hand der Parteien zur diktatorischen Oligarchie vereinigt.8

Man muss sich endlich klar werden, dass diesem sozialpathologischen Wahnsinn nur Einhalt geboten werden kann, wenn die Allmacht des Staates aufgelöst, er auf das reine Rechtsleben beschränkt wird und das Wirtschafts- und Geistesleben in die horizontal koordinierende Selbstverwaltung der dort tätigen sachkundigen Menschen ausgegliedert werden. Die herrschenden Egomanen können nur entmachtet werden, indem ihnen ihr staatliches Machtinstrument aus der Hand genommen wird.9

Diese verfassungsrechtlichen Änderungen müssen Ziel der Bürgerbewegungen und Demonstrationen wie die der Bauern sein, denn nur durch wachsenden Druck von unten, vom Volk, können sie erreicht werden. Andernfalls setzt sich der Weg in weitere Katastrophen unaufhaltsam fort.

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Dieser Text erschien auch auf dem Blog des Autors 

1   https://de.wikipedia.org/wiki/Mansholt-Plan

2   Vgl. Karl Heyer: Machiavelli und Ludwig XIV., Stuttgart 1964, S. 226 ff.

3   a.a.O. S. 99-100

4   Vgl.: https://fassadenkratzer.wordpress.com/2022/07/10/karl-jaspers-schon-1965-bundesrepublik-keine-demokratie-sondern-parteienoligarchie/
5   https://fassadenkratzer.wordpress.com/2024/01/23/landwirt-ziel-der-agrarpolitik-war-immer-landwirte-zu-leibeigenen-zu-machen/#more-13675

6   https://www.agrarheute.com/land-leben/tabu-thema-selbstmorde-landwirten-554007

7   Zitiert nach André F. Lichtschlag in „eigentümlich frei“ Aug./Sept. 2013, S. 40

8   Vgl. Anm. 4

9   Näher: https://fassadenkratzer.wordpress.com/2014/09/19/der-staat-als-instrument-der-machtsucht-einzelner/

 



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