Versuch über das Scheitern – Betrachtungen eines unangenehmen Phänomens

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Das Bändchen von Michael Böhm, verlegt in der Edition Sonderwege bei Manuscriptum, macht neugierig. Warum wendet sich der Autor einem Thema zu, das wenig debattiert wird, weil es vor allem unangenehme Gefühle weckt?

Böhm erklärt das mit einem Kindheitserlebnis. In den späten 70er Jahren begegnete er mit seiner Mutter an einer bestimmten Straßenbahnhaltestelle einem trunksüchtigen, heruntergekommen Mann. Der Akademiker hatte aus politischen Gründen seine Stelle verloren und das nicht verkraftet. Es gab, besonders 1976, nach dem Rausschmiss des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR, der eine erhebliche Protestwelle erzeugt hatte, hunderte solcher Fälle. Ich selbst kenne ein halbes Dutzend. In der Regel mussten sich die Akademiker in der Produktion bewähren und, wenn sie Glück hatten, fanden sie später einen Job, der mehr ihren Neigungen entsprach. Ist der Mann an der Haltestelle „gescheitert“, wie Böhms Mutter ihrem Sohn sagte?

Nein, er ist nicht gescheitert, er ist offensichtlich an der gegen ihn verübten Repression zerbrochen.

Was ist Scheitern? Böhm nähert sich der Definition, indem er vergleicht, was verschiedene Philosophen unter Scheitern verstehen, ohne sich selbst festzulegen. Am nächsten dem Wesen des Scheiterns kommt meiner Meinung nach Karl Jaspers, der im Meschen ein zum Scheitern verdammtes Wesen sieht, das an seinen eigenen Voraussetzungen scheitert.

Man scheitert nur an den eigenen Ansprüchen, Vorstellungen und selbst gesetzten Zielen, an denen von Dritten nur, wenn man sie sich zu eigen gemacht hat.

„Ziele stehen im Weg“ ist mein Lieblingsbonmot eines befreundeten Künstlers, der unbeirrt davon, ob die Gesellschaft ihm die entsprechende Anerkennung zollt, seine meisterhaften Miniaturbilder malt und gute Bücher schreibt. Solche wie er sind die hidden champions des gesellschaftlichen Lebens.

Von daher kann ich Böhms These, dass die globalisierte Welt immer mehr Menschen unter das „Joch des Marktdrucks“ zwingt und „immer mehr Gescheiterte hinterlässt“ nicht zustimmen. Tatsächlich erzeugt der Fürsorgestaat, der im Westen immer mächtiger wird, Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen, weil ihnen die Selbstständigkeit, zuvörderst das selbstständige Denken, abtrainiert wurde. Inzwischen wird, wie einst in den sozialistischen Diktaturen, den Kindern schon im Kindergarten beigebracht, dem Zeitgeist zu gehorchen. Früher waren es Parolen von der Überlegenheit des Sozialismus, heute sind es Bekenntnisse zum menschengemachten Klimawandel oder zur „Vielfalt“, die schon den Kleinsten abverlangt werden. Im Extremfall wird den Kindern eingeredet, dass sie sich ihres eigenen Geschlechts nicht sicher sein dürfen. Angesagt ist, dass man nicht wissen soll, ob man Männlein oder Weiblein ist.

Und ist es nicht eher so, dass sich immer mehr Opfergruppen erfinden, weil der Opferstatus gesellschaftliche Privilegien bringt?

Das alles hat mit Kapitalismus oder Marktdruck nichts zu tun, sondern es handelt sich um Auswüchse einer neuen totalitären Ideologie, deren erklärtes Ziel es ist, uns bis zum Jahr 2030 besitzlos, aber glücklich zu machen. Das kann man auf den Seiten des WWF von Klaus Schwab nachlesen.

Um Scheitern, oder was man dafür hält, zu vermeiden, gibt es haufenweise Ratgeberbücher. Böhm widmet ihnen ein eigenes Kapitel. Die darin enthaltenen „Lebenshilfen“ sind zum Teil absurd. Ich erinnere mich, dass mir mal die Schrift eines bekannten Finanzgurus in die Hände gekommen ist, deren Lektüre jedem den Weg zum Reichtum öffnen sollte. Darin stand, dass man ständig 1000 Euro in bar mit sich herumtragen solle. Das würde einen positiven Einfluss entfalten und dieses neue Gefühl verhälfe zu Reichtum. Noch grotesker ist das Beispiel, das Böhm aus einem Ratgeber für die dauerhafte Liebe zitiert. Beim Koitus solle es nicht weniger als 1000 Stöße geben, im Wechsel von sieben flachen und einem tiefen. So wird der Liebessakt zum Hochleistungssport und zur Rechenaufgabe. Wer zwanghaft  mit zählen und achten auf die richtige Reihenfolge beschäftigt ist, hat keine Möglichkeit, sich um die Gefühle der Partnerin zu kümmern. Hat die Gesellschaft, in der solche Ratschläge ernsthaft verbreitet werden, noch ein unbefangenes Verhältnis zum Sex? Kaum.

Da waren unsere Altvorderen von anderem Kaliber.

Parallel zu Böhm las ich einen Wälzer über die Dynastie der Romanowas. Zar Alexander II hatte ein Liebesverhältnis mit einer sehr viel jüngeren Frau. Sie trafen sich mindestens zwei Mal täglich, um sich zu vereinigen. In den Briefen, die sie sich zwischendurch schrieben, malten sie ihre Liebesrituale so unbefangen aus, dass sie bis heute nicht veröffentlicht worden sind. Wenn Alexander II gewusst hätte, was eine angeblich sehr viel freiere Zeit in Sachen Liebesakt vorschlägt, hätte er vor Lachen seine Olga mindestens einmal nicht beglücken können.

Zurück zum Scheitern. Böhm führt das Beispiel Sören Kierkegaard an, der mit 29 Jahren zu einem tiefunglücklichen Menschen wurde und die Frau, die er liebte, unglücklich machte, indem er sie verließ. Er hatte sich so hohe Vorstellungen von der Ehe gemacht, dass er aus Angst, sie nicht erfüllen zu können, sich lieber von seiner Verlobten Regine trennte. Das ist Scheitern pur. Kierkegaard flüchtete sich in die Antike, deren Schicksalsidee ihm „vor Augen geführt haben (dürfte), dass die antike Welt eine zutiefst menschliche Welt war, weil sie sich am Maß des Menschen orientierte, weil es in ihr nicht nur ein Wissen um seine Größe und Abgründe gab, sondern auch die Ahnung, dass diese womöglich unabänderlich, eben schicksalhaft sind.“ Dagegen setzt Böhm die „christliche Fortschrittslogik“, die menschliches Scheitern vermeiden, oder sogar unmöglich machen soll. Er führt den französischen Philosophen Michel Foucault an, der in seinem Werk „Die Ordnung der Dinge“ darauf verweist, dass die Neuerungen der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – die Entschlüsselung der DNA oder die ersten integrierten Schaltkreise, die Vorläufer der Chips – ein Angriff auf die menschliche Natur seien. Ein halbes Jahrhundert später behauptet Ray Kurzweil, der amerikanische Vordenker des Transhumanismus, dass ab 2045 die Verschmelzung von Menschen zu Cyborgs stattfinden würde. Die Hirne hätten dann Nanoimplantate, die von künstlicher Intelligenz gesteuert werden, später kämen noch von Nanotechnologie gesteuerte Glieder hinzu, die rekonstruierbar wären. Am Ende des Jahrhunderts würden Neuroimplantate simulierte Sinneseindrücke virtueller Körper in einer virtuellen Welt direkt an das Gehirn übertragen, man würde sich nicht mehr in seinem Körper bewegen, sondern im vom Gehirn wahrgenommenen Virtuellen. Wie das aussehen könnte, kann man im Film „Matrix“ betrachten. Was für Kurzweil eine fortschrittliche Vision ist, verursacht anderen Horror. Den zu Cyborgs perfektionierten Menschen wären Schmerz, Trauer oder Liebe fremd. Die Welt wäre vielleicht perfekt, aber kalt und gefühllos.

Deshalb plädiert Böhm am Ende seiner Betrachtungen für die

Remythologisierung der Welt. Laut Max Weber haben Rationalität, Vernunft und Wissenschaft die Entzauberung der Welt vorangetrieben. Die Entzauberer haben nur vergessen, dass die Welt zu mannigfaltig ist, es gibt zu viele Variablen, hinter jedem gelösten Problem tauchen dutzende neue auf. Es gab einen berühmten Nobelpreisträger, der sagte, er hätte Physik studiert, weil das ein abgeschlossenes Fach gewesen sei, in dem es keine Überraschungen, in Form von neuen Entdeckungen mehr geben könnte. Dann kamen Einstein und Heisenberg mit ihrer Relativitäts- bzw. Quantentheorie und damit völlig neue Forschungsfelder. Weder wird der Mensch das Klima beherrschen, noch herausfinden, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Das ist auch gut so.

Böhm zitiert am Ende den von der Rationalität der Aufklärung verstörten Dichter Novalis: „Die Welt muss romantisiert werden“. Die Rationalisten haben viel Schönes und Ästhetisches zunichte gemacht. Aber wie die Romantiker in Bildern, Gedichten, Erzählungen und Romanen das

Schöne und Ästhetische wieder entstehen ließen, kann man auch heute die Welt mythisieren. Sie ist nicht wirklich entzaubert, die Menschen haben nur mehrheitlich die Fähigkeit verloren, sich dem Zauber hinzugeben. Diese Fähigkeit lässt sich aber revitalisieren, man kann sich an den Romantikern orientieren oder sie auch einfach von den Kindern lernen.

Michael Böhm: „Versuch über das Scheitern“



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