Ukrainekrieg-Debatte: Wider die linke Ideologie

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Nicht nur Großmächte haben Interessen und es kommt darauf an, wie versucht wird, sie durchzusetzen

Von Gastautor Lothar W. Pawliczak

Artig betonten auch unsere Friedensappellierer, daß sie den Krieg Rußlands gegen die Ukraine verurteilen, aber das sei nur eine verständliche Reaktion auf den angeblich von den USA betriebenen Putsch 2014 und es sei legitim, wenn Rußland vor seiner Haustür in seinem Interessenbereich dem US-Imperialismus entgegentrete. Russland führe ja nur „einen Regionalkrieg in der Ukraine“, aus dem man sich heraushalten soll. Der Westen führe „tatsächlich aber einen breit angelegten Krieg gegen Russland, in Gestalt von Waffenlieferungen für die ukrainischen Streitkräfte, eines Wirtschaftskrieges und eines Propagandakrieges. Russland soll als relevante Macht aus der internationalen Politik verdrängt werden.“[1] Es sei nicht im deutschen Interesse, die Ukraine in ihrem Überlebenskampf zu unterstützen.

Richtig: Es geht um Interessen! „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ (Egon Bahr)

Ist aber der Krieg Rußlands gegen die Ukraine wirklich nur Resultat des Interessenkonflikts der Imperialmacht USA mit Rußland, nur eine Fortsetzung des Gegensatzes der Sowjetunion und der USA? Muß man daran erinnern, daß die Imperialismustheorie eine traditionell marxistische ist und die Rede vom US-Imperialismus ein Grundnarrativ der kommunistischen Propaganda im kalten Krieg? Immerhin: Linke billigen nun Rußland wohlwollend zu, auch imperialistisch zu sein. War das große Reich im Osten nicht bisher einfach nur Hoffnungsträger aller, die den Imperialismus der Kapitalisten abschaffen wollen?

Es wird erklärt, die USA hätten ihren Machtbereich mit der NATO auf Osteuropa erweitert und wollten den nun mit der Ukraine bis an die Grenze Rußlands vorschieben, wogegen sich Rußland nur wehre. Was dabei eigentlich das spezielle Interesse der USA und der NATO sei, bleibt unklar: Wieso sollten die NATO und die EU ein unbedingtes Interesse daran haben, noch ein paar Hundert Kilometer weiter an den russischen Machtbereich heranzurücken, wo doch die Baltischen Staaten unmittelbar an dessen Grenzen liegen und die NATO mit Griechenland, der Türkei, Bulgarien und Rumänien faktisch bereits das Schwarze Meer kontrolliert? Wieso hatten die USA und die NATO 1994 – Budapester Abkommen – offensichtlich kein Interesse, in Kasachstan, in Belarus und in die Ukraine ein- und damit näher an die Grenze Rußlands heranzurücken und die dortigen Atomwaffen zu übernehmen? Wieso sollen die USA später plötzlich ein spezielles militärisches Interesse an der Ukraine entwickelt haben?

Es ist die russische Argumentation, man wehre sich nur dagegen, daß die USA militärisch immer näher an die russischen Grenzen rückt. Die paßt allerdings nicht so richtig zur russische Propaganda, man müsse einen Kampf führen, um die gute russische Kultur gegen die dekadente westliche zu verteidigen und „russische Erde“ wieder einsammeln, und zwar überall dort, wo Russen leben oder gelebt haben. Und erinnert die Argumentation, Rußland reagiere nur auf Provokationen des Westens, nicht an die, Vergewaltiger seien durch aufreizende Kleidung und Verhalten provoziert worden? So werden Opfer zu Tätern gemacht. Was ist denn die Konsequenz solcher Denkungsart? Sollen Frauen, um Vergewaltiger nicht zu ihren Taten anzuregen, Burka tragen? Welche dauerhaften Konsequenzen erwarten die, die sich mit Friedensappellen nur an die westlichen Politiker wenden, Rußland nicht zu provozieren? Meinen diese Friedensappellierer, ein Volk müsse erst den großen Nachbarn um Erlaubnis fragen, ob es seine Politik in der einen oder anderen Weise ausrichtet oder ändert?

Daß die USA einerseits wie Rußland andererseits ein Interesse daran haben, ihre Vorstellungen von der Ordnung der Welt durchzusetzen, sei unbestritten. Aber gibt es da nicht noch die Interessen anderer Länder oder sind die nur Puppen am Marionettenkreuz der Großmächte? Es ist ja eine schöne und plausible Welterklärung, daß zwei Großmächte um Vorherrschaft kämpfen. Zu plausibel, zu einfach! Opposition wird dann auf beiden Seiten jeweils als Resultat der zersetzenden Tätigkeit der anderen Seite verstanden. Oppositionelle in Rußland werden per Gesetz (!) als ausländische Agenten dargestellt, landen im Gefängnis oder werden gleich ermordet. Die Orangene Revolution und der Maidan-Aufstand seien von den USA geheimdienstlich organisiert und finanziert worden. Umgekehrt werden unerwünschte politische Entwicklungen im Westen als Folge russischer Wühltätigkeit und von Manipulationen über das Internet aufgefaßt. Und bei Konferenzen, die Ideen für die Politik und für Konfliktlösungen suchen sollen, listet man gern auf, wer die sponsert, um damit wohl zu sagen, dort gäbe es nur einseitige Interessenbekundungen.

Ist da nicht zu fragen, ob jeder Staat – nicht nur die Großmächte – und jedes Volk Eigeninteressen hat, die sich von denen anderer Staaten und Völker unterscheiden? Das wird in schöner marxistischer Tradition zurückgewiesen: „Staaten könnten keine national-staatlichen Interessen haben, weil in ihnen Klassenwidersprüche zu finden sind.“[2] In dieser Denkungsart kommen die Bürger und die Völker als eigenständig Handelnde nicht vor. Was empfiehlt denn ein linker Autor der Ukrainischen Regierung? Am 25. März 2023 zitiert der erneut, was er fast genau zwei Monate nach dem russischen Überfall auf die Ukraine geschrieben hat: „Als 1968 die sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei einmarschierten, hatte der dort verantwortliche Verteidigungsminister befohlen, dass die tschechoslowakischen Truppen in den Kasernen bleiben. Niemand wurde erschossen [Das ist eine Lüge: Der Autor weiß es besser!], keine Stadt in Kämpfen zerstört. Als zwanzig Jahre später der politische Umbruch erfolgte, konnten sich alle Lebenden daran beteiligen [Das ist eine Halbwahrheit: Die Überlebenden, die verfolgt wurden und das Land verlassen haben, mußten erst zurückkehren, um sich daran beteiligen zu können.].“ Auch in der Ukraine, meint er wohl, „können alle, die jetzt nicht erschossen wurden, in zehn oder 15 Jahren Akteure eines politischen Neuanfangs werden. Im Grunde ist Defätismus für beide Seiten, die russische wie die ukrainische, der einzige vernünftige Ausweg, der den Umständen des 21. Jahrhunderts gemäß ist.“[3] Das ist an Zynismus kaum noch zu überbieten. Damit ist ausgesprochen, was jene meinen, die die Einstellung der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern: Sie wollen die Ukrainer dem Schicksal überlassen, von der russischen Putin-Clique unterjocht zu werden.

Natürlich: Jede Regierung folgt bestimmten Interessen (Hier sei mal außen vor gelassen, daß die neueren deutschen Regierungen in moralischer Hybris glauben, alle Mühseligen und Beladenen dieser Welt und die Welt als Ganzes retten zu müssen und zu können, und dabei die spezifisch deutschen Interessen nicht mehr wahrnehmen oder nicht wahrnehmen wollen.). Und diese Interessen können sich in Abhängigkeit von der inneren Entwicklung jedes Landes auch ändern. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der linken Ignoranz der Interessen der kleineren Länder und Völker mit der bolschewistischen Theorie von der Partei als Avantgarde (Heutzutage nennt man das wohl „Aktivisten“.), die besser zu wissen meint, was die Interessen der Völker und speziell der Arbeiter sind? Haben wir es nicht überall mit linken Besserwissern zu tun, die den Leuten vorschreiben wollen, was für sie gut sei? Die Argumentationen und Apelle über die Köpfe der Ukrainer hinweg paßt dazu.

Könnte es nicht sein, daß sich etwa zwischen 2004 und 2014 die Mehrheitsverhältnisse in der Ukraine geändert haben und dort ein nachhaltiges Interesse entstanden ist, eine ähnlich erfolgreiche Entwicklung zu nehmen, wie z.B. die benachbarten Baltischen Staaten, während die Perspektive, ein Verbündeter Rußland ähnlich dem Nachbarn Weißrußland zu sein, den meisten Bürgern dort unattraktiv erscheint? Könnte es sein, daß seit 1991 in der Ukraine eine Generation herangewachsen ist, die nicht mehr eine traditionelle Bindung zu Rußland hat? Könnte es sein, daß es unabhängig von äußeren Einflüssen ein Interesse der Ukraine gibt, Mitglied der EU zu werden und unter den Schutzschirm der NATO zu schlüpfen? Georgiy Kassianow wies darauf hin, daß sowohl die Orangene wie die Maidan-Revolution sich „durch ein hohes Maß an horizontaler Mobilisierung, basisdemokratischer Selbstversorgung“ auszeichneten. „In der Ukraine hat sich eine Zivilgesellschaft herausgebildet, – nicht jene, die durch die Bemühungen westlicher Geldgeber geschaffen und unterstützt wurde, sondern eine authentischere, die auf einer jahrhundertalten, oft übersehenen Tradition beruht.“ (Wie schaffen sie das? In: der freitag Nr. 8 | 8. Februar 2023) Auf der Demonstration in Berlin am 25. Februar 2023 hat der US-Ökonom Jeffrey Sachs in einer Fünf-Minuten-Videobotschaft mitgeteilt: „Der Krieg begann mit dem gewaltsamen Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch“. Diese Auffassung ist selbstentlarvend: Eine Entwicklungsperspektive wie im Baltikum attraktiv und eine wie in Weißrußland nicht attraktiv zu finden, sei also ein Krieg gegen Rußland. Übrigens: Mit dem Verbot der auf Seiten der Ukraine kämpfenden russischen Legion „Freiheit Russlands“ als „terroristische“ Organisation hat Moskau offiziell eingestanden, daß auch Russen keine wie auch immer geartete Vereinigung der Ukraine mit dem großrussischen „Brudervolk“ wollen.

Wer politische Veränderungen nur als irgendwie von außen beeinflußt sieht, denkt offensichtlich das Volk nur als Untertan Mächtiger. Der Antrag Finnlands und Schwedens, Mitglied der NATO zu werden, ist allerdings von außen beeinflußt worden, nämlich von der aggressiven russischen Propaganda auch gegen diese Länder im Zusammenhang mit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Interessanterweise haben russische Offizielle erklärt, daß ein NATO-Beitritt dieser Länder die Interessen Rußlands nicht nachhaltig beeinträchtigt. Wieso beeinträchtigt dann ein EU-Beitritt der Ukraine – ein NATO-Beitritt wurde bekanntlich von der NATO abgelehnt – die Interessen Rußlands?

Um diese Fragen zu beantworten, muß man wohl analysieren, auf welche Art und Weise Staaten und Regierungen versuchen, ihre Interessen durchzusetzen, auf welche Art und Weise die Großmächte ihre Vorstellungen von einer Ordnung der Welt zu realisieren suchen. Die begrifflichen Grundlagen einer solchen Analyse hat Ulrich Menzel vorgelegt mit der Unterscheidung von Imperialherrschaft einerseits und Hegemonialherrschaft andererseits (Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Ordnung der Staatenwelt. Berlin 2015). Menzel definiert – anders als die ursprüngliche Bedeutung der Worte – Imperium als kategorialen Gegensatz zu Hegemonie: Der wohlwollende Hegemon stütze sich auf seine überragende Leistungsfähigkeit und die Akzeptanz der Gefolgschaft, weil er Ordnung durch die Bereitstellung öffentlicher Güter garantiert und zivilisatorische Ausstrahlungskraft besitzt. Dagegen ist ein Imperium eine Ordnung durch knechtende Herrschaft, die zwar Güter für die Unterworfenen bietet und sich dabei aber auf deren Ausbeutung stützt. Hegemoniale wie imperiale Macht hat ihre Grenzen: „Die Grenze einer hegemonialen Ordnung ist erreicht, wenn die Leistungsfähigkeit des Hegemons nachläßt und die Akzeptanz der Gefolgschaft schwindet. Die Grenze der imperialen Expansion ist erreicht, wenn der dafür notwendige Aufwand nicht mehr durch den Zuwachs an Tribut gedeckt werden kann.“ (Menzel S. 44) Ein Hegemon setzt auf die Überzeugungskraft seiner Macht und Leistungen sowie auf Vereinbarungen zwischen Partnern. Ein Imperium setzt sich über jede Vereinbarung, über jede selbst gegebene Zusage und über allgemeine Verhaltensregel hinweg, wenn es dazu die Machtmittel hat.

Man kann, wie Menzel das unternommen hat, die Weltgeschichte der großen Reiche unter Voraussetzung seiner begrifflichen Einordnung analysieren, und dabei feststellen, daß stets imperiale wie hegemoniale Herrschaftsmethoden in den jeweiligen Machtbereichen eingesetzt wurden. Allerdings: Hegemonie und Imperium sind nach dieser Definition Begriffe zur Analyse der internationalen Ordnung, können daher auf frühere Zeiten nur sinngemäß angewandt werden, weil sich Internationalität im Sinne eines weltumfassenden Systems selbst erst relativ spät historisch herausgebildet hat. Die Vorstellung von einer Ordnung der Welt als Ganzes, ist wohl eine westlich-europäische, die spätestens 1494 im Vertrag von Tordesillas zwischen Spanien und Portugal präsent ist. Mit Nachdruck wurde sie dann im 18. Jahrhundert mit Rule, Britannia! durchgesetzt. Hugo Grotius lieferte eine naturrechtliche Begründung der Weltordnung in Kriegs- und wie in Friedenszeiten (De jure belli ac pacis, 1625). Immanuel Kant entwarf eine aufgeklärte, vernunftgeleitete Weltordnung (Vom ewigen Frieden, 1795). Im 19. Jahrhundert deklarierten die USA mit der Monroe-Doktrin ihre Hegemonie über ganz Amerika, während sie sich aus der europäischen Ordnung heraushalten wollten. Letzteres war sowohl im I. wie im II. Weltkrieg zunächst auch die Position der USA, die dann aufgegeben werden mußte in Gestalt einer Ausdehnung der Hegemonie auf Europa bis zum „eisernen Vorhang“ und auf den gesamten Pazifik-Raum. US-President Wilson strebte an, mit dem Völkerbund eine friedliche Weltordnung herzustellen, was zunächst mißlungen ist. Die UN-Charta verbietet zwar jeden Angriffskrieg, kann aber durch das Vetorecht eines der Großmächte paralysiert werden.

Das Zarenreich hatte wohl ebensowenig die Vorstellung einer Weltordnung wie z.B. China, man kann aber deren Politik, die sich garkeine andere Welt als die eigene vorstellen konnte, wohl mutatis mutandis unter imperialistisch subsumieren. Nach Rußland kommt die Vorstellung von einer Weltordnung erst mit der Idee der kommunistischen Weltrevolution und Lenin versuchte, sie hegemonial umzusetzen. Stalin und seine Nachfolger setzten sie, soweit ihre (militärische) Macht reichte, imperialistisch um. Dafür kritisiert Putin Lenin und lobt Stalin. Und Gorbatschow, der die imperiale Attitüde der Sowjetunion aufgegeben hat – nicht zuletzt wegen des imperialen Dilemmas, daß die Kosten der Sowjetherrschaft den Nutzen überwogen, hat für Putin damit die russische Kultur als solches akut gefährdet, was Putin & Co mit der Auflösung der Sowjetunion als evident belegt erscheint. Als Zentrum eines kommunistischen Imperialismus hat Russland eine historische Sonderrolle gespielt und dieses Reich war bis zum Kollaps 1990 dem weltwirtschaftlichen Wettbewerb entzogen. So konnte man das zaristisch erworbene Imperium halten und noch erweitern. Die jetzige reale weltwirtschaftliche Bedeutung Rußlands hängt ganz und gar vom Verhökern seiner Naturschätze ab. Eine selbständige Ukraine ist dabei mit ihren Rohstoffvorkommen, mit den vermuteten Erdöl- und Erdgaslagerstätten und den reichen Erträgen seiner Landwirtschaft ein lästiger Konkurrent. Das dürfte das entscheidende Interesse der russischen Führung sein, Krieg gegen die Ukraine zu führen: „It’s the economy, stupid!“

Ein Hegemon muß und kann mit den Eigeninteressen der Verbündeten rechnen und zulassen, daß einzelne Länder den Hegemonialbereich verlassen, obwohl sie weiter von diesem öffentlich bereitgestellte Güter nutzen: 1959 entzog Frankreich seine Flotte der NATO-Unterstellung, setzte 1966 den Abzug der alliierten Truppen aus Frankreich durch und die Vertreter Frankreichs zogen sich aus den militärischen Organen der NATO zurück. 1974 erfolgte der Austritt Griechenlands aus der militärischen Integration der NATO. Deutschland weigerte sich lange, den beschlossenen Anteil an den Verteidigungskosten zu leisten und erfüllt diesen Beschluß immer noch nicht. Ein Imperium dagegen ist als Ganzes gefährdet, sobald sich Eigeninteressen von darin eingeschlossenen Ländern regen oder die gar ausscheiden wollen: 1953, 1956, 1961 wurden russische Truppen gegen Bürger im Bereich des „Warschauer Vertrages“ eingesetzt und mit der Verhängung des Kriegsrechtes in Polen 1981 kam man einer eigenständigen Entwicklung des Landes zuvor, was vermutlich mit erneutem Einsatz russischer Panzer einen Bürgerkrieg ausgelöst hätte. Auch die Tatsache, daß Honecker seinerzeit bei Breshnew persönlich die Genehmigung einholte, Ulbricht abzusetzen, und daß Krenz 1990 über den sowjetischen Botschafter in Berlin für Günter Mittag, der zufällig in Moskau war, bei Gorbatschow einen Termin machen ließ, um dessen Genehmigung einzuholen, Honecker abzusetzen, deutet darauf hin, daß die davon ausgingen, nur Funktionäre in einem Imperium zu sein. Noch kann sich der Diktator in Belarus halten, aber die Stationierung von Hunderttausenden russischen Soldaten im Land läßt vermuten, was passiert, wenn die demokratische Opposition dort in der Lage wäre, sich durchzusetzen. Und was bedeutet die Stationierung von etwa 1.500 russische Soldaten und 10-15.000 prorussischen Paramilitärs in Transnistrien? Der russische Außenminister Lawrow hat die Frage beantwortet: Der Republik Moldau würde als Nächstes das Schicksal der Ukraine ereilen.

Daß es den Tschechen und Slowaken gelungen ist, sich friedlich zu trennen, belegt, daß die Tschechoslowakei in den 1990ern nicht mehr Teil eines Imperiums war. Dänemark hat die Grönländer und Färöer durch seine Leistungsfähigkeit (für diese autonomen Regionen) überzeugt, die Separationsbestrebungen aufzugeben. Ähnlich dürfte wohl der Ausgang des Volksentscheids in Schottland gegen eine Separation einzuschätzen sein, anders dagegen der massive Gewalteinsatz der spanischen Zentralregierung gegen Katalonien.

Zum Ukrainekrieg wird oft vergleichend auf das Eingreifen der NATO in die Jugoslawienkriege in den 1990ern verwiesen. Da ist es hilfreich, vor einem Urteil einige Fakten zur Kenntnis zu nehmen:

  1. Der Krieg der Jugoslawischen Zentralregierung gegen Slowenien war zwar nach 10 Tagen beendet und mit dem unter Vermittlung der EG zustande gekommenen Brioni-Abkommen (War das eine imperialistische Einmischung der EG?) konnte ein Waffenstillstand vereinbart werden, der Krieg verlagerte sich aber trotz Waffenembargos (Das zum Thema, „keine Waffenlieferungen an die Ukraine“.) nach Kroatien. 2. Am 2. Januar 1992 vereinbarte der UN-Sonderbeauftragte Cyrus Vance mit der Führung in Belgrad und Zagreb einen Friedensplan, der die Stationierung von UN-Truppen (UNPROFOR) ermöglichte. Der UN-Sicherheitsrat beschloß am 31. März eine neue Aufgabenbeschreibung der in Kroatien stationierten Blauhelme unter dem Namen „UN Confidence Restoration Operation in Croatia“ (UNCRO). War das US- oder NATO-Imperialismus? 3. Fortgesetzt wurde der Krieg Kroatiens und Serbiens gegen Bosnien, der mit der Verpflichtung der drei Kriegsparteien auf 13 Grundsätze zur Konfliktlösung in der Jugoslawien-Konferenz in London unter Vorsitz von EG und UNO beendet werden sollte. War das EG-Imperialismus? 4. Am 21. November 1995 wurde schließlich unter Hegemonie der USA – auch nach vorausgehenden NATO-Bombardements gegen Serbien – der Friedensvertrag von Dayton vereinbart, der diese Kriege beendete und auch die Selbständigkeit von Montenegro und Mazedonien sicherte, ohne daß diese Staaten ebenso von Krieg überzogen wurden. Ist das US-Imperialismus? Ist es nicht vielmehr so, daß die USA und die NATO mit ihrer Hegemonie sicherten, daß die Völker dieser Länder ihre Eigeninteressen und ihre Souveränität durchsetzen konnten? Ist die derzeitig laufende Vermittlung der EU zwischen Serbien und dem Kosovo und der dazu von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Vertragsentwurf imperialistisch?

Hätte man Slowenien und Montenegro verbieten sollen, sich unter den Schutz der NATO zu begeben? Soll man den Bürgern im Ex-Jugoslawien sagen, sie sollen auf die Investitionen der „bösen Kapitalisten“ verzichten? Hätten sie darauf verzichten sollen, damit zerstörte Städte wie Dubrovnik (Ragusa), Split (Spalato), Mostar und andere wieder aufzubauen? Soll man ihnen verwehren, mit einem EU-Beitritt wirtschaftliche Vorteile für die Entwicklung ihrer insgesamt armen Länder zu erlangen? Offensichtlich meinen selbst die traditionell Rußland nahestehenden Serben, daß die EU ihnen Besseres zu bieten hat, als die Großmacht im Osten.

Im heutigen Rußland ist das seit dem ersten Zaren Iwan IV. feststellbare traditionelle Expansionsbestreben, wie es dann insbesondere unter Zar Peter I. und Zarin Katharina II. massiv weiter verfolgt wurde, wieder präsent. Putin beruft sich ausdrücklich darauf und kann sich dazu auf Zustimmung im Volke stützen, wo die Vorstellung, die russische-orthodoxe Kirche verkörpere mit Moskau als „drittes Rom“ das wahre Christentum, sich mit der Idee von der „Sammlung russischer Erde“ verbindet. Jeder Widerstand dagegen muß in dieser Vorstellungswelt als verbrecherisch und Gefährdung der russischen Kultur erscheinen. Die Machthaber in Moskau halten es aber für nötig, jeden Opponenten mit drastischen Strafen zu bedrohen – falls sie ihn nicht gleich umbringen lassen. Andererseits trifft wohl immer noch zu, was Astolphe de Custine vor rund 150 Jahren notierte: „Ein wirrer, ungeheuerlicher Ehrgeiz, wie er sich nur in der Seele der Unterdrückten entwickeln kann, … keimt im Herzen des russischen Volkes. Dieses Volk ist seinem Wesen nach erobernder Natur. Es ist aufgrund seiner Entbehrungen gierig und leistet im voraus, durch das Erniedrigende seiner Unterwerfung, Sühne für seine Hoffnung, zum Tyrannen der anderen zu werden. Der Ruhm und der Reichtum, den es von der Eroberung erwartet, lenken es von der Schande ab, der es mit seiner Knechtschaft unterliegt. Um sich reinzuwaschen für das Opfer jeder öffentlichen und persönlichen Freiheit, träumt der russische Sklave auf den Knien von der Weltherrschaft.“ (La Russie en 1839. Paris 1843)

In einem Imperium ist Frieden als Friedhofsruhe herstellbar – mit westlicher Hegemonie ein Frieden, der die Interessen der einzelnen Staaten, Völker und ethnischen Gruppen berücksichtigt. Dabei sind nicht alle Probleme lösbar und nicht alle Konflikte zu beseitigen. Manche sind prinzipiell unaufhebbar, aber man kann sie mit gegenseitigem Verständnis handhaben. Darauf hat jüngst der tschechische Botschafter in Deutschland, Tomáš Kafka, im von der Konrad-Adenauer-Stiftung organisierten Café Kiew hingewiesen. Die EU hat sich allzulange in einer Attitüde kompromißlerischer Beschwichtigung von Problemen gefallen und dabei ignoriert, daß es antagonistische Konflikte gibt, die man aushalten und mit denen man sich arrangieren muß.

Konflikte zwischen hegemonialen Ordnungssystemen wie auch zwischen Imperien sind lösbar jeweils durch Unterordnung unter eine Macht. Ein Konflikt zwischen einer hegemonialen Weltordnung und einer imperialen ist unlösbar, solange sie beide nebeneinander bestehen. Solch einen unlösbaren Konflikt kann man nur angemessen oder unangemessen handhaben.

Lothar W. Pawliczak ist Philosoph und Ökonom. Er lebt in Berlin.

[1] Ich nehme hier speziell Bezug auf Erhard Crome: (Vor-)Kriegspropaganda. In: Das Blättchen. 26. Jg. | Nr. 4 vom 13. 02. 2023 (URL: https://das-blaettchen.de/2023/02/vor-kriegspropaganda-64779.html). Dieser Artikel und die Diskussion dazu im Forum derselben Zeitschrift war Anlaß, meinen Text dazu zu verfassen. Nach einigem Hin-und-her lehnte es die Redaktion des Blättchen ab, ihn zu veröffentlichen. Linke Meisterdenker meinen da ja auch, historische Analysen wie die von Prof. Menzel als „pseudowissenschaftlichen Mumpitz“ ignorieren zu können.

[2] Erhard Crome: Schäferstündchen. In: Das Blättchen. 26. Jg. | Nr. 6 vom 13. 03. 2023 (URL: https://das-blaettchen.de/2023/03/schaeferstuendchen-65101.html).

[3] Erhard Crome wiederholt im Forum des Blättchen nach fast einem Jahr diese empörende Passage aus seinem Artikel Zeitgemäßer Defätismus. In: Das Blättchen. 25. Jg. | Nr. 9 vom 25. 04. 2023 (URL: https://das-blaettchen.de/2022/04/zeitgemaesser-defaetismus-61302.html)



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