Die letzte Reise des Matthias Domaschk

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Das Buch “Jena Paradies – Die letzte Reise des Matthias Domaschk” von Peter Wensierski ist das Beste, das ich über die Jungendopposition in der DDR kenne. Wensierski, dem wir eine ganze Reihe sehr guter Bücher über die DDR-Opposition verdanken, es seien nur „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“ und „Die verbotene Reise“ genannt, ist noch einmal über sich hinausgewachsen. Lag es daran, dass er sich diesmal wegen der Corona-Zwangspause drei Jahre Zeit nehmen konnte, in der er 60 000 Seiten Akten, teils zum ersten Mal durchsah und 160 Zeitzeugen, Freunden, Bekannten, Verwandten von Domaschk, aber auch Stasileuten, Transportpolizisten und Volkspolizisten, die mit Domaschk zu tun hatten, befragte? Selbst der Rezensent von MDR-Kultur musste heute morgen eingestehen, dass dies das best recherchierte Buch sei, das er zum Thema kenne.

Nach mehr als dreißig Jahren Vereinigung ist die DDR immer noch ein unbekanntes Territorium für Westdeutsche. Die Freiheitsrevolution von 1989/90 ist keineswegs in eine gemeinsame Erzählung der ehemaligen beiden deutschen Teilstaaten eingegangen. Die erscheint für die meisten im Herbst 1989 aus dem Nichts. Dass es in den 70er und 80er Jahren eine rege, zum Teil sehr kreative Opposition gegen den SED-Staat gab, ohne die der Revolutionsherbst 1989 nicht zustande gekommen wäre, ist weitgehend unbekannt.

Auch, dass es unter der totalitären Oberfläche ein Leben in der DDR gab, jenseits der von der SED vorgegebenen Normen und der Nischengesellschaft, weiß man nicht.
Umso verdienstvoller ist es, dass Wensierski diese Lücke füllt. Er zeichnet das Bild vom Leben und Wirken einer Jugendopposition, als wäre er dabei gewesen. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich den Autor unter den damaligen Akteuren vermutet.

„In Jene lebt sichs bene“, nicht nur das. Die malerische Saalestadt war immer wieder Anziehungspunkt für unabhängige Geister. Ich erinnere nur an den Kreis junger Schriftsteller und Philosophen um die Gebrüder Schlegel und ihre Frauen, der sogar Goethe und Schiller anzog.
In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts formierte sich ein großer Kreis Jugendlicher, die in diversen Abbruchhäusern wohnten und ein gemeinsames Leben ausprobierten. Domaschks Wohnung Am Rähmen war nur einer der Treffpunkte, ein anderer war ein Haus in der Gartenstraße oder die Junge Gemeinde Jena – Mitte. Man feierte und wanderte gemeinsam, las, diskutierte, plante aber auch Proteste gegen das SED-Regime. Anlässe gab es genügend: Ein Überfall auf ein Fest in der Gartenstraße mit heftigen Prügeleien und Festnahmen, führte dazu, dass viele Beteiligte Eingaben gegen die ausgeübte Gewalt schrieben. Das wiederum war Vorwand für die Staatssicherheit, die Eingabenschreiber zu verhaften und zum Teil ins Gefängnis zu stecken. Am Ende standen die ersten Abschiebungen in den Westen.

Als der Liedermacher Wolf Biermann, der in den 70ern häufig nach Jena kam, um seine damalige Geliebte Sybille Havemann zu besuchen, nach seinem Kölner Konzert ausgebürgert wurde, gab es die nächste große Aktion. Die jungen Leute unterstützten den Brief prominenter Schriftsteller wie Christa Wolf, Sarah Kirsch und Jurek Becker, der erstaunlich milde war und lediglich darum bat, die Ausbürgerung zu „überdenken“ mit Unterschriftensammlungen, nicht nur in Jena, sondern in allen Orten, in denen die Jenenser Kontakte hatten. Domaschk war in dieser Angelegenheit viel unterwegs. Es gab wieder eine Festnahmewelle, Verhöre, Verhaftungen, Abschiebungen. Auch Domaschk wurde stundenlang verhört und erwies sich den Methoden der Staatssicherheit nicht gewachsen. Ein Plan, ihn als IM, Inoffiziellen Mitarbeiter, anzuwerben, wurde jedoch nicht ausgeführt.

Übrigens ließen die prominenten Schriftsteller jegliche Solidarität mit ihren jugendlichen Unterstützern vermissen.

Domaschk war, was man heute einen begabten Netzwerker nennen würde. Er reiste nicht nur kreuz und quer durch das Land, sondern nach Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn, um Kontakte zu knüpfen. Er erlebte in Danzig an der Leninwerft die Entstehung von Solidarność mit und kam mit den Adressen führender polnischer Oppositioneller zurück. Er besuchte Peter Uhl, den Mitbegründer von Charta 77 und hatte sogar Verbindungen nach Westberlin, nicht nur zu den ehemaligen Jenensern um Jugenddiakon Thomas Auerbach, sondern auch zu linksradikalen Kreisen.

Wensierski schildert die letzten drei Tage von Domaschk, vom Freitag, dem 10. April 1981, an dem er sich, Feuchtwangers „Falschem Nero“ im Gepäck, mit seinem Freund Peter Rösch, genannt Blase, auf den Weg nach Berlin machte, um dort an einer Geburtstagsfeier teilzunehmen, bis zum Sonntag, dem 12. April, an den er am frühen Nachmittag, im Besucherzimmer der MfS-Dienststelle Gera, in das er gebracht worden war, weil er dort auf die Fahrt nach Jena in die Freiheit warten sollte, erhängt aufgefunden wurde. In den Rückblenden dazwischen erzählt Wensierski die Vorgeschichte abwechselnd aus der Sicht von Domaschk und seinen Freunden oder der Stasimänner. Erstaunlich, wie Wensierski die Stasileute zum Reden gebracht hat. Ein besonderes Erlebnis war für mich die Schilderung einer Kaffeerunde mit Mandarinentörtchen in der MfS-Dienststelle Jena, wo die Teilnehmer über abwesende Kollegen herziehen, und sich über ihre vielen Sondereinsätze beschweren.

Zum Verhängnis wurde Domaschk, dass der X. Parteitag der SED in Berlin tagte, als er dorthin wollte. Die Stasi wusste, dass er Kontakt zu einem Mitglied einer Thüringer Terrorgruppe hatte, die tatsächlich Anschläge verübt hat, u.a. auf den Weimarer Zweibelmarkt. Freilich wies nichts im Gepäck von Domaschk und Rösch darauf hin, dass sie einen Anschlag auf den Parteitag geplant haben könnten, aber die Jenaer Stasi, die unter besonderem Erfolgsdruck stand, weil sie als ineffektiv galt, wollte die Gelegenheit nutzen, um in Verhören mehr Informationen zu sammeln. Das gelang leider bei Domaschk so gut, dass sie am Ende Material in der Hand hatten, das für einen Prozess ausgereicht hätte: Feindliche Verbindungsaufnahme wäre nur ein Anklagepunkt gewesen. Aber die Stasi entschied sich, Domaschk stattdessen als IM anzuwerben. Er junge Mann war am Ende so gebrochen, dass er die Verpflichtung unterschrieb.

Der Letzte, der mit Domaschk gesprochen hat, war sein Bearbeiter aus Jena. Dabei muss er Domaschk klar gemacht haben, dass es kein Zurück für ihn gab.

Als Domaschk endlich allein war, muss ihm klar geworden sein, zu was er sich nötigen lassen hatte. Er konnte das nicht ertragen und erhängte sich mit seinem Hemd am Heizungsrohr.

Sein Vater sagte später, sein Sohn hätte ihm angekündigt, sich aufzuhängen, wenn ihn die Stasi noch einmal abhole. Er wüsste, wie man das machen muss. Er muss es gewusst haben, denn so einfach ist das nicht.

Es ist erschütternd, wie das SED-Regime mit seiner paranoiden Angst vor Widerspruch, seiner Unduldsamkeit gegenüber anderen als den vorgesehenen Lebensentwürfen und der Brutalität des Vorgehens seiner „Organe“, besonders junge Menschen in den Tod getrieben hat. Die Selbstmordrate in der DDR war die zweithöchste in Europa.

Beim Jenaer Kreis handelte es sich keineswegs um Feinde des Sozialismus. Im Gegenteil, sie waren alle links und wollten lediglich ihren Traum von einer besseren Welt verwirklichen. Sie hofften immer noch, auch nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, auf den Sozialismus mit menschlichem Antlitz und bekamen eine Fratze zu spüren, die das Gegenteil war.

Peter Wensierski: „Jena Paradies“

 



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