Der renommierte Migrationsforscher und Ökonom Paul Collier und sein Kollege John Kay gehen in ihrem neuen Buch der Frage nach, was unsere gegenwärtige Gesellschaft zerreißt und warum sich die Politik wieder um den Zusammenhalt der Gesellschaft kümmern muss. Das Werk entstand zum Teil in der Coronakrise, untersucht aber Prozesse und Phänomene, die sich schon früher abgezeichnet haben. Corona hat die krisenhafte Entwicklung nur beschleunigt, könnte aber dazu beitragen, Lösungen zu begünstigen, weil die Gemeinschaft gefordert ist zu zeigen, was sie leisten kann.
Auch wenn die Autoren überwiegend die Entwicklung in Großbritannien analysiert haben, sind ihre Erkenntnisse für Deutschland wichtig.
Die Grundthese der Autoren, dass wachsender Individualismus das Grundübel unserer Zeit ist, weil er die Gemeinschaft zerstört, mag verwundern, wenn man die Bereitschaft der überwiegenden Mehrheit vor Augen hat, sich auch noch den unsinnigsten, sich zum Teil widersprechenden Corona-Maßnahmen zu beugen, sich gar an ihrer flächendeckenden Durchsetzung zu beteiligen, auch wenn sie die individuelle Existenz gefährden. Die Autoren präzisieren aber, dass es ihnen um die Forderung nach individuellen Rechten geht.
Sichere Eigentumsrechte sind für das Funktionieren einer Volkswirtschaft unabdingbar. aber wie steht es mit den Menschenrechten? Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ durch die UNO nach den Zweiten Weltkrieg markiert den Beginn der Menschenrechte. Sie definiert 30 Grundrechte, von denen 21 Bürger- und politische Rechte sind, die das Individuum vor staatlicher Willkür schützen sollen. Die restlichen 9 sind soziale und wirtschaftliche Rechte. Die UNO ließ aber eine Frage unbeantwortet, wer soll die sozialen und wirtschaftlichen Rechte garantieren? Der Staat, würde die spontane Mehrheitsantwort lauten. Damit sind wir mitten im Problem. Der Unterschied zwischen Menschen- und Eigentumsrechten wurde in der Erklärung verwischt.
„Die Forderung nach Gewährleistung individueller Rechtsansprüche untergräbt die Solidarität […] verringert die Bindungskraft moralischer Verpflichtungen.“
Sich selbst und anderen gegenüber. Wenn man vom Staat und seinen Institutionen alles erwartet, nimmt man sich selbst nicht mehr in die Pflicht. Wo es keine Pflichten mehr gibt, verrutschen die Maßstäbe. Die Autoren nennen als Beispiel den Aktivismus der Occupy-Bewegung, deren Sinn nur im leeren Protest besteht, bei „dem die Intensität des Gefühls wichtiger war als echtes Wissen“. Oder Deutschland. Seit dem Atomausstieg emittiert Deutschland mehr Kohlenstoff als jedes andere Land Europas, was praktische Auswirkungen auf Afrika haben wird, wo die Folgen des Klimawandels bereits deutlich zu spüren sind.
„Der Aktivismus der Grünen verringerte ein eingebildetes Risiko, das sie stark aufbauschten, und der Preis dafür ist die Verschärfung eines nur allzu realen Risikos für eine Milliarde Afrikanerinnen“.
Heutzutage können Aktivisten mit dem Privatjet einfliegen, um auf Klimakonferenzen vor dem Klimawandel zu warnen. Beiträge zur öffentlichen Debatte werden danach bewertet, wie vehement die Argumente vorgebracht werden, nicht wie triftig sie sind.
Die starke Rolle des Staates in den westlichen Gesellschaften ist eine Folge der zwei Weltkriege. Der Krieg förderte Zentralisierung und Planwirtschaft. Die dabei erzeugten Erwartungen an den Staat wuchsen in einem Maß, das nicht mehr erfüllt werden konnte. Politiker steigerten sich in ein Weltretterethos hinein, das immer weniger mit der Realität zu tun hatte.
Die absurden Auswirkungen kann man heute in Deutschland beobachten: Während die Infrastruktur auf gefährliche Weise der Verrottung preisgegeben wurde, verteilt die Politik großzügig „Entwicklungshilfe“ weltweit, sogar an Länder wie China, das nach deutschem Rezept Transrapids baut, während die Erfindernation dieser Technologie auf Lastenfahrräder zurückfällt.
Dieses Fiasko enthüllt „die Schwächen staatlicher Wirtschaftslenkung […] unangemessene Expansion statt begrenztem Experiment und anschließend die fehlende Bereitschaft, Hiobsbotschaften zur Kenntnis zu nehmen und daraus zu lernen“. Aktuell können wir das an der Ampelkoalition beobachten, die trotz sich deutlich abzeichnender Energiekrise an der „Energiewende“ festhält und lieber katastrophales Scheitern riskiert, als notwendige Korrekturen durchzuführen.
Zunehmend wird von der Politik die bedeutendste wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnis ignoriert, dass dezentrale Märkte besser in der Lage sind, koordinierte Ergebnisse zu erreichen, als zentralistische Planungen.
„Die Teilung Deutschlands…war vielleicht das größte kontrollierte Experiment in der Wirtschaftsgeschichte – und die Ergebnisse waren glasklar. Produktivität und Realeinkommen im sozialistischen Osten betrugen nur ein Bruchteil dessen, was in der Marktwirtschaft im Westen erreicht wurde.“
Der zweite politische Irrtum ist, dass nur der Staat das Gemeinwohl verwirklichen könne. Dass die Ergebnisse hinter den Erwartungen zurückbleiben, untergräbt das Vertrauen in den Staat, ein Phänomen, das in allen westlichen Ländern zu beobachten ist. Das geht einher mit einem Schwund an Vertrauen in die politischen Parteien und die repräsentative Demokratie. Die Unterschicht will mehrheitlich “keine höheren Sozialleistungen, sondern neue Beschäftigungschancen. Mit staatlichen Leistungen finanzierter Konsum ist kein Ersatz für einen auskömmlichen Lebensunterhalt, den man aus eigener Kraft verdient und einem das Gefühl der Wertschätzung vermittelt“.
Welche Lösungen schlagen die Autoren vor?
Sie sind sicher, „dass Menschen keine egoistischen, nutzenmaximierenden Individuen sind […] Vielmehr suchen sie ihre Erfüllung vor allem in der Begegnung mit anderen“. Sie behaupten, dass nicht der Staat, sondern die Gemeinschaft moralische, soziale und wirtschaftliche Handlungsmacht besitzt, „durch ein Netz miteinander wechselwirkender Gruppenaktivitäten“.
Das wurde erstmals von Aristoteles formuliert. Ziel des menschlichen Daseins sei die eudaimonia, das gute Leben und der Maßstab einer guten Gesellschaft ist die Fähigkeit, Bedingungen zu schaffen, die dem erfüllten Leben förderlich sind. Ein erfülltes Leben fordert Ausgewogenheit und Mäßigung, auch in den Tugenden. „Die Tugend des Mitgefühls ist Mitleid, das dem Nachbarn in Not hilft, nicht der „Weltretter“-Furor.
Der Beweis dafür wurde in Deutschland nach der Flutkatastrophe im Aartal erbracht, wo die Bürgergesellschaft anpackte und erfolgreich half, während der Weltretter-Staat kläglich versagte.
„Der Mensch verdankt seinen evolutionären Erfolg demnach nicht der Tatsache, dass er egoistisch und gerissen ist, sondern seiner sozialen Natur.“ Und der Fähigkeit, voneinander zu lernen, die uns von den Menschenaffen unterscheidet.
„Gemeinschaften sind beides – das Geflecht von Beziehungen auf Wechselseitigkeit und der Speicher unserer kollektiven Intelligenz […] Eine Gemeinschaft ist ein kommunikatives Netzwerk, aber jeder Einzelne von uns kann nur eine begrenzte Anzahl von Menschen kennen; nur in kleinen Gruppen kann sich jeder mit allen andern austauschen“.
Das ist das schlüssigste Argument, warum alle Weltstaat-Pläne, wie sie jüngst wieder Klaus Schwab vom WEF vorstellte, zum Scheitern verurteilt sind.
Das grundlegende Erfordernis der Gemeinschaft ist ihre Begrenztheit. „Klarheit darüber, wer zur Gemeinschaft gehört und wer nicht […] echte Gemeinschaftsbildung kann nur entstehen, „wenn jeder und jede weiß, gegenüber wem er oder sie selbst Pflichten hat und wer ihm oder ihr verpflichtet ist. Bürger und Bürgerinnen eines Landes erkennen gegenüber Mitbürgerinnen größere Verpflichtungen, als gegenüber Nichtmitbürgerinnen […] Aus diesem Grund ist Staatsbürgerschaft relevant.“ Neulinge müssen erkennen, dass sie die Pflicht haben, „aktive Mitglieder der Gemeinschaft zu werden, indem sie das Netz der Wechselseitigkeit, von dem sie ein Teil werden, verstehen und akzeptieren“.
In einer Gemeinschaft sollen alle das Recht haben, originelle Ideen öffentlich zu äußern, „frei von Einschüchterungen durch den Staat oder Aktivistinnen.“ Die „Suche nach einem Konsens darf keiner Minderheit […] ein Vetorecht gegen das übergeordnete Gemeinschaftsinteresse einräumen […] Das Streben nach praktischer Umsetzung des Gemeinwohls ist eines der definierenden Merkmale einer erfolgreichen Gemeinschaft; es fördert sowohl den Fortschritt […] als auch jene Einrichtungen, die uns in schlechten Zeiten schützen“.
Die Autoren warnen: „Es ist leichter, eine gut funktionierende Gemeinschaft zu zerstören, als eine aufzubauen“.
Leider ist Deutschland gerade dabei, den Beweis dafür anzutreten.
Paul Collier/ John Kay: Das Ende der Gier