Seit Gregor Gysi im Dezember 1989 erfolgreich die Auflösung der SED auf ihrem letzten Parteitag verhinderte und deren letzter Vorsitzender wurde, ist der Name Gysi aus der Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken. Der Anwalt und frisch gebackene Parteivorsitzende, bald darauf Volkskammerabgeordneter und danach Mitglied des Deutschen Bundestages, hatte ein Abonnement auf die Talkshowsessel der Republik und avancierte zum gefragten Interviewpartner. Die Medien liebten ihn für seinen Witz und seine Schlagfertigkeit, in einem solchen Maße, dass sie kaum nach seiner Verantwortung für das Verschieben von geschätzten 24 Mrd. DM DDR-Vermögen fragten, obwohl es Gysi war, der als eine der ersten Amtshandlungen als SED-Chef eine Gruppe zur Sicherung des Parteivermögens gegründet hatte. Als der Deutsche Bundestag in der 13. Wahlperiode (1994-1998) im 2. Untersuchungsausschuss DDR-Vermögen Gysi und andere Genossen als Zeugen lud, verweigerten Gysi & Co die Aussage. An einen Aufschrei der Empörung, der auch nur annähernd dem in der Kohlschen Spendenaffäre glich, kann ich mich nicht erinnern.
Bis heute fand sich kein kritischer Journalist, der diese Affäre umfassend zum Thema gemacht hätte. Heute wissen selbst Journalisten nicht mehr, dass Gysi der letzte SED-Vorsitzende war und die SED niemals aufgelöst, sondern nur mehrmals umbenannt wurde. Auch die Stasimitarbeit des eloquenten Polit-Stars bleib mittels zahlreicher Prozesse für die Öffentlichkeit im Ungewissen, obwohl der Immunitätsausschuss der 13. Wahlperiode, der alle damals verfügbaren Hinterlassenschaften des Inoffiziellen Mitarbeiters Sputnik, später Notar, durchgearbeitet hat und zum Ergebnis kam, dass die Stasimitarbeit des Abgeordneten Gysi erwiesen sei, hatte keinen Einfluss auf die Öffentliche Meinung, denn wegen der Nähe zum Wahlkampf verzichtete die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth darauf, den Abgeordneten Gysi zur Niederlegung seines Mandats aufzufordern, wie es laut der Selbstverpflichtung des Bundestages hätte geschehen müssen.
Selbst sein kurzes, von ihm abgebrochenes Zwischenspiel als Wirtschaftssenator für Berlin vermochte die Gysi-Begeisterung nicht zu dämpfen. Jedem anderen Politiker wäre die Diskrepanz von verkündetem Anspruch und ungelöster Ausführung vorgehalten worden. Gysis Begründung für seinen Rücktritt, die unberechtigt benutzten Dienst-Flugmeilen für einen privaten Urlaubsflug, wurde ihm sogar hoch angerechnet. Selbst den von mehreren ehemaligen Mandaten erhobenen Vorwurf des Mandantenverrats überstand Gysi ohne sichtbare Kratzer. Ihm gelang es im Laufe seiner politischen Karriere seine Vergangenheit vergessen zu machen.
Nun wendet er sich einem Teil dieser Vergangenheit wieder zu. Gemeinsam mit seiner Schwester Gabriele, zu DDR-Zeiten als Schauspielerin bekannter als ihr jüngerer Bruder, ließ er sich von Hans-Dieter Schütt zu seinem Vater Klaus Gysi interviewen. Das Gespräch ist jüngst im Aufbau-Verlag unter dem Titel „Unser Vater“ erschienen und ein bemerkenswertes Stück Geschichtsverklärung.
Klaus Gysis Leben ist in der Tat von den Extremen des 20. Jahrhunderts geprägt. Der Sohn aus bürgerlichem Arzthaushalt wurde schon in jungen Jahren überzeugter Kommunist und ist es sein Leben lang geblieben. Er lernte seine erste Frau Irene Ende der 30er Jahre kennen. Das Paar emigrierte nach Frankreich, 1940 kehrten die beiden im Parteiauftrag nach Deutschland zurück, obwohl sie beide jüdische Vorfahren hatten, Klaus Gysi sogar als Halbjude galt. Laut Wikipedia lebten sie „mit Glück und Geschick“ in der Illegalität Berlins, am Nikolassee bei Irenes Eltern, inmitten von Nazigrößen. Klaus Gysi ging einer Beschäftigung als Freischaffender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Verlags Hoppenstedt & Co. nach. Daneben sollen beide illegale Parteiarbeit geleistet haben.
Im Buch geht es aber hauptsächlich um die Tätigkeit Klaus Gysis in der DDR, als Person der SED-Zeitgeschichte.
Nach der Gründung der DDR kam die Karriere von Klaus Gysi zunächst nur schleppend voran. Er hatte Probleme wegen angeblich ungeklärter Fragen seiner Westemigration. Während er beschäftigungslos war, später eine untergeordnete Position im Verlag Volk und Welt bekam, leitete seine Frau Irene den Verlag Rütten & Loening, der später vom Aufbau- Verlag geschluckt wurde.
Die Diskrepanz zwischen der Stellung der Eheleute in dieser Zeit soll nach Ansicht von Gregor Gysi die eigentliche Ursache dafür sein, weshalb Klaus Gysi seine Ehefrau später verließ. Irene, die bis zum Schluss unter dieser Trennung litt, soll gesagt haben, es wäre wohl besser gewesen, wenn sie in Westberlin einen Verlag gekauft hätte, mit Klaus als Geschäftsführer und ihr als Inhaberin. Man hätte auch im Westen für die kommunistische Sache kämpfen können. Das Frau Irene ihrer Ehe damit bessere Chancen eingeräumt hat, wirft ein zweifelhaftes Licht auf Klaus Gysi.
Zweifelhaft ist auch sein Aufstieg als Leiter des Aufbauverlages, nachdem sein Vorgänger Walter Janka verhaftet und verurteilt worden war. Als er 1990 in einem Interview von Günter Gaus gefragt wurde, ob er diese Position nicht hätte ablehnen müssen, antwortete Gysi sen. erst mit: „Wenn
ich´s von heute aus sehe: ja“, um dann gleich darauf im Gegenteil zu behaupten, er hätte darin eine Chance gesehen, Jankas Arbeit fortzusetzen. Und dann: „Die große Rolle spielte eigentlich die Auffassung, dass es schon besser ist, ich mach das.“ So spricht ein Reueloser.
Ähnlicher „Dialektik“ bediente sich Gysi sen. auch im Privaten. Als er eines Tages von seinem Sohn gefragt wurde, ob es stimme, dass sowjetische Soldaten deutsche Frauen massenhaft vergewaltigt hätten, antwortete er, dies sei natürlich falsch, undifferenziert und pauschal, setzte dann aber zu einer umständlichen Erklärung an, dass es doch irgendwie stattgefunden hätte. Dies sieht Gregor G. als „frühen Unterricht in Dialektik…“Aber da war auch das Typische des Intellektuellen im Parteibetrieb: Er verteidigte das Grundsätzliche gegen störende Details, leugnete diese aber nicht.“ Gysi jun. erwies sich als gelehriger Schüler. Beispiel: „Er war für mich ein bisschen zu wenig Vater, aber in dem, was ihm möglich war, ein guter.“
Ähnlich wie bei der Nachfolge als Leiter des Aufbau-Verlags verlief auch die Beförderung Klaus Gysis zum Kulturminister. Als im Nachgang des XI. Plenums des ZK der SED 1965 zwölf Filme der DEFA, eine Jahresproduktion, verboten wurden, war das auch das Ende für den damaligen Kulturminister. Als der seine Entlassung mitgeteilt bekam- wegen Sabotage – saß Klaus Gysi schon im Vorzimmer. Er sollte angeblich nach der Verbotsorgie wieder Ruhe in die Kulturlandschaft der DDR bringen.
In Gysis Amtszeit fiel u.a. die legendäre Inszenierung des „Faust“ von Wolfgang Heinz und Adolf Dresen. Walter Ulbricht saß, wie oft, mit Frau Lotte bei der Premiere in der ersten Reihe. In der Pause ging er mit seiner Entourage. Klaus Gysi, der sich in dieser Pause, wie Chaim Noll berichtet, gegenüber seinem Vater, Dieter Noll, witzig und positiv über die Inszenierung geäußert hatte, blieb in der ersten Reihe allein zurück. Am nächsten Tag exekutierte er als der zuständige Minister die Repressalien gegen die Inszenierung.
Gregor Gysi: „Natürlich gehorchte er auch, er war ein Beschlusstreuer“. Am Ende von Veranstaltungen aber soll er „einen alternativen Geist, der durchaus in klarem Widerspruch zur SED-Linie stand“ entwickelt haben. Der Junior kommentiert das mit den Worten: „Es gibt eine Manövrierfähigkeit, die gehört ebenso zur Politik, wenn man praktisch bleiben möchte und beteiligt sein will.“ Treffender kann man Opportunismus nicht beschreiben.
Nach diesem väterlichen Prinzip hat Gysi jun. sein Leben ausgerichtet. Er berichtet beglückt von einer „halbprivaten“ Begegnung mit Altkanzler Helmut Kohl, die ihm offenbar viel bedeutet hat. Gysi jun. will „beteiligt sein“, koste es offenbar, was es wolle.
Später wurde Gysi sen. Staatssekretär für Kirchenfragen. Im Buch findet sich der Satz. dass Gysi sen. gegenüber seinen kirchlichen Gesprächspartnern, erst zu- und dann wieder absagte.
Im Vorwort des Buches schreibt Hans-Dieter Schütt: „Erfahrungsgemäß möchte man lohnender gelebt haben, als es der Fall war.“ Da wird eine Biografie auch gern aufgehübscht.
Als das Politbüro auf die Idee kam, die so genannte „Protokollstrecke“, auf der man jeden Tag von Wandlitz ins ZK nach Berlin fuhr, durch den Jüdischen Friedhof von Weißensee zu führen, weil der Berliner Senat beim Verkauf des Grundstücks an die Jüdische Gemeinde zur Bedingung gemacht hatte, einen Streifen mitten im Friedhof für eventuellen späteren Straßenbau frei von Gräbern zu halten, waren es nur die Oppositionsgruppen, die lautstark dagegen Einspruch erhoben. Wir argumentierten, dass sich nach dem Holocaust nicht mehr zieme, sich auf Verträge aus der Kaiserzeit zu berufen. Damals wurde uns von der Jüdischen Gemeinde und der Kirchenleitung gesagt, die ihrerseits von Staatssekretär Gysi entsprechende Anweisungen bekam, wie mir Bischof Forck und Konsistorialpräsident Stolpe bei Unterredungen klar machten, wir sollten uns da raushalten. Das taten wir nicht. Wir alarmierten mit unseren Mitteln die nationale und internationale Öffentlichkeit und erreichten breiten Protest. Der Druck auf die DDR-Regierung wurde so stark, dass sie das Vorhaben aufgeben musste.
In „Unser Vater“ steht: „Plötzlich konnte mein Vater als Staatssekretär für Kirchenfragen durchsetzen, dass Pläne für eine Straße quer durch den großen Jüdischen Friedhof in Berlin endlich ad acta gelegt wurden.“ Mein Lieblingsaphoristiker Stanisław Jerzy Lec hatte recht: Die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht.
Ein ähnliches Beispiel findet man bei Gysi jun, der sich zum Beinahe-68er-Oppositionellen stilisiert. Zur Verhaftung von Protestierenden gegen den Einmarsch der Sowjets in der Tschechoslowakei zur Niederschlagung des Prager Frühlings sagt er: „Glücklicherweise war ich genau zu jener Zeit auf Hochzeitsreise. Vielleicht hätte ich sonst bei diesen Protesten mitgemacht.“ Immerhin bekam er ein Parteiverfahren. Allerdings werden die Umstände im Unklaren gelassen: „Disziplinarische Vergehen, begangen aus unterschiedlichen Gründen, wurden plötzlich als konterrevolutionär eingestuft. Gegen einen dieser Vorfälle an der Juristischen Fakultät argumentierte ich ziemlich logisch und zog mir den Ärger der Leitungen zu. Das Ergebnis war das erwähnte Parteiverfahren. Ich ließ nicht locker mit meiner Kritik und in dieser Situation kam mein Vater zu mir und sagte: „Bitte Gregor, übertreibe es nicht.“ Offenbar hat Gregor nicht übertrieben, denn es scheint keinerlei Konsequenzen gegeben zu haben.
Ein Leben reicht nicht. Mancher Opportunist braucht ein zweites, um seinem Selbstbild gerecht zu werden.