In der Reihe der Aufstände gegen kommunistische Unterdrückung und Willkür gehört auch der hierzulande wenig bekannte Aufstand in Workuta. Nach Stalins Tod am 5. März 1953 kam es in der DDR am 17. Juni 1953 zum Volksaufstand. Selbst in der nord-östlichsten Stadt Europas, im 4.300 Km entfernten Workuta, keimte nach dem Tod des Diktators Hoffnung auf. Dort legten die Arbeitssklaven die Arbeit nieder. Im GULag. Aber wie in der DDR vorher wurde auch der Aufstand in Workuta blutig niedergeschlagen – am 1. August 1953. 64 GULag-Häftlinge wurden von schwer bewaffneten MWD-Truppen erschossen; 53 ihrer Opfer sind namentlich bekannt. Der Chronist der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion, Dr. Horst Hennig, der am 21. Mai 2020 im Alter von 93 Jahren verstarb, hat für eine Gedenkfahrt nach Workuta im Sommer 2003 folgenden Erinnerungsbericht geschrieben:
Das Regime-Lager Nr. 10 des Schachtes 29
Das Lager Nr. 10 lag etwa 15 Kilometer vom Durchgangslager entfernt. Zusammen mit einer Häftlingsgruppe erreichte ich im Januar 1951 diesen Ort der Zwangsarbeit, den ich erst im März 1955 verlassen sollte. Nach der üblichen Durchsuchung passierte ich das Tor mit der sinngemäßen Inschrift: “Ihr könnt durch Arbeit eure Schuld abtragen”. Ein Gefangener trat auf mich zu: “Seid ihr Deutsche?” Im Gespräch teilte er mir mit, er stamme aus einer auf der Krim enteigneten Familie. In drei Jahren habe er sein Strafmaß von 25 Jahren erreicht und werde dann in die “freie Siedlung” außerhalb des Stacheldrahtes entlassen, vorausgesetzt er würde nicht noch einmal verurteilt, was gar nicht so selten wäre. Die Hoffnungen des Oskar Iwanowitsch Raab mussten auf mich sehr entmutigend wirken. Er half, die uns zugewiesene Baracke zu finden. Seine Hilfe war notwendig, denn alle Gebäude auf dem Gelände waren bis über das Dach eingeschneit. Eine dürftige Lichtleitung verlief auf Schornsteinhöhe zwischen den Baracken. Schließlich setzten wir uns auf eine steil abfallende Schneewand und rutschend bei 30 Grad minus krachend vor einen Barackeneingang. Eintretend bot sich uns folgendes Bild: Etwa 200 Personen hausten hier rechts- und linksseitig zusammengepfercht auf halb hohen Bretterflächen. Da die Schlafstätten der Häftlinge überbelegt waren, legten mein Transportkamerad, der Berliner Geschäftsmann Alfred Groth (1) und ich uns notgedrungen auf den Boden. Nachts kamen Ratten und Wanzen.
- Horst Hennig auf den Überresten der Küchenbaracke von Lager Nr. 10/Schacht 29 am 1. August 1995 beim Besuch anlässlich des 42. Jahrestages der Niederschlagung des Aufstandes.
Die Verpflegung war naturgemäß miserabel und völlig unzureichend. Das Wasser wurde zunächst aus dem noch nicht verschmutzten Schnee zum Trinken aufgetaut. Am Tage gab es 600 Gramm “Klitschbrot”, Wassersuppe und zwei Esslöffel Hirsebrei. Fett, eiweißhaltige Nahrungsmittel und Gemüse gab es nicht. Auch die Kleidung reichte nicht für die herrschenden Kältegrade aus. Erfrierungen waren deshalb an der Tagesordnung. Verurteilte Ärzte versuchten mit ihrem Wissen, jedoch mit primitiven Mitteln zu helfen. Ihnen gebührt an dieser Stelle besonderer Dank!
Die Offiziere der Lagerverwaltung folgten der perfiden Strategie der Konzentrationslager, indem sie kriminelle Häftlinge als Helfer in “Kapo-Funktionen” einsetzten. Es ist nicht übertrieben, dass sich ehemalige kommunistische KZHäftlinge der Nazi-Zeit, von den Sowjets nach 1945 aus politischen Gründen verurteilt nach den “deutschen Verhältnissen” zurücksehnten.
Ein erheblicher Teil der Verurteilten rekrutierte sich aus intellektuellen Berufen. Es waren Universitätsprofessoren, Theologen, Lehrer, Ingenieure und Studenten aller Fakultäten. Der sozialistische Machtapparat schreckte nicht davor zurück, ganze Schulklassen zu verhaften.
In den Zwangsarbeitslagern Workutas war der überwiegende Teil der Häftlinge zu 25 Jahren verurteilt. Dadurch waren sie zu rechtlosen Politverbrechern abgestempelt und unübersehbarer Willkür ausgeliefert. Niemand hat den grausamen Lageralltag so zutreffend beschrieben wie Alexander Solschenizyn in “Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch”. Das Grauen der Lager gestaltete sich für die Gefangenen ab 1935 und in den Folgejahren noch schlimmer: zu überleben war fast unmöglich.
Nach der politischen Entscheidung Moskaus, die Kohlevorkommen in der Workuta Region abzubauen, wurden vornehmlich Zwangsarbeiter herangetrieben. Ihr mühsamer Weg führte über Wasser, Eis und unwegsamen Tundraboden. Die meisten starben erschöpft von Hunger, Krankheit und Kälte bereits auf den Transportwegen oder später vor Ort in Schneehöhlen. (Von der gefangenen Finnin Aino Kusinen, der Frau des Komintern- und Sowjetfunktionärs liegt eine der ersten deutschsprachigen Beschreibungen der Jahre 1938 bis 1946 vor: “Der Gott stürzt seine Engel”, Wien 1972.)
Deutsche Kommunisten, die sich nach 1933 nur durch Flucht der Bedrohung entziehen konnten, teilen sich jetzt mit Russlanddeutschen die Friedhöfe in der Tundra, wo sie zwischen Ende 1930 und Anfang 1940 verscharrt wurden. Dem unheiligen Pakt zwischen Hitler und Stalin fielen andere zum Opfer, indem sie von der Sowjetunion an die Gestapo ausgeliefert wurden.
Auf dem Höhepunkt der “Repression” befanden sich in Workuta über 32 Schächte, 127 Gefangenenlager. 200.000 Zwangsarbeiter sollten auf dem Archipel GULag der Sowjetunion dazu verhelfen, den wirtschaftlichen Fünf-Jahresplan und mithin deren Rüstungsziele zu erfüllen. Zwangsarbeiter aus allen Weltteilen waren Mittel zu diesem Zweck; deren Schicksal und Tod waren Bestandteil dieser “Planwirtschaft”.
Arbeitsverweigerung und Lagerstreik
Das geistige Potential vereint in der Gegnerschaft zum Sowjetstaat, die Ausweglosigkeit des Daseins unter den unwürdigen und rechtlosen Zwangsbedingungen des Lagers und schließlich der stärkste Antrieb eines denkenden Menschen, der Wille als freier Mensch eigenverantwortlich zu leben – all diese Faktoren begünstigten mit der Zeit die Entstehung eines passiven Widerstands.
Im Lager pflegte der Einzelne vornehmlich Kontakte zu den Landsleuten. Hier ergaben sich am ehesten Hilfsmöglichkeiten im Falle einer persönlichen Not. Darüber hinaus suchte man für geistige und kulturelle Gespräche Gleichgesinnte, deren nationale Herkunft keine Rolle spielte. Während die Arbeitslager sich zueinander in vollständiger Isolation befanden, funktionierten der Austausch und der Abgleich von Nachrichten und Erkenntnissen Iagerintern recht gut. Drei Ereignisse zeitigten auch bei den Gefangenen Workutas Wirkung: der Tod Stalins am 5. März 1953; der Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953 und die Verhaftung des Regierungsmitglieds und Geheimdienstchefs Berija am 26. Juli 1953. Das zunächst vorsichtige Aufbegehren der Gefangenen traf auf eine durch die Ereignisse verunsicherte Lagerverwaltung. Auch in anderen Schachtlagern zeichnete sich, wie sich später herausstellen sollte, eine ähnliche Entwicklung ab. Es kam zum Streik, der Ende Juli 1953 im Schacht 29 und dem dazugehörigen Lager Nr. 10 seinen Höhepunkt fand. Den Versprechungen des für die Strafkolonie Workuta zuständigen Generals Derewjanko schenkte man keinen Glauben mehr; zu oft hatte die Administration die Häftlinge betrogen. Konsequenterweise forderte der Sprecher des Streikkomitees deshalb Verhandlungen mit autorisierten Regierungsvertretern aus Moskau. Als Folge dieser Forderung fand am 29.-30. Juli 1953 eine geschichtsträchtige Auseinandersetzung zwischen den Häftlingen einerseits und dem Kandidaten des Zentralkomitees der KPdSU, dem stellvertretenden Minister Armeegeneral Iwan Maslennikow andererseits statt. Ort dieser Zusammenkunft war der Appellplatz des Lagers. In Anwesenheit des Generalstaatsanwaltes der Sowjetunion Rudenko wurden unsere Forderungen vorgetragen, die alle menschenwürdige Haftbedingungen und verfassungsgemäße Rechte einklagten.
Drei Hauptforderungen wurden formuliert: die Freilassung aller politischen Häftlinge, das Recht der Ausländer, in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen und die Garantie der Straffreiheit für alle Streikenden. Im Verlauf der Reden und Gegenreden verlor Armeegeneral Maslennikow jegliches Ansehen als Verhandlungsführer. Ein Hauptmann der ehemaligen “Roten Armee” meldete sich zu Wort: “Herr General, ich bin in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und deshalb nach dem Krieg zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt worden”. Die Antwort des Generals: “Für Verräter eine gerechte Strafe”. Trocken entgegnete der Hauptmann: “Sie aber Herr General waren mein Befehlshaber! Sie flogen als Verantwortlicher der eingeschlossenen Truppen aus dem Kessel aus! Ich habe meine Pflicht getan, während Sie, Herr General, die Truppen im Stich gelassen haben und sich selbst in Sicherheit brachten!”
Diesen entlarvenden Dialog kommentierten Hunderte russischer Häftlingsstimmen lautstark mit groben Flüchen. General Maslennikow verließ daraufhin mit seinem Stab das Lager und bestätigte damit ungewollt den Vorwurf des Hauptmanns. Diese Reaktion verhieß nichts Gutes. Er hatte eine persönliche Niederlage erlitten. Die Geschichte gibt keine Auskunft über die Gründe, die General Maslennikow 1954 in den Selbstmord trieben.
Der Feuerbefehl
Am 1. August 1953 richtete sich ein durch Megaphon verstärkter und wiederholter Aufruf an die Häftlinge: Achtung, Achtung! Ich habe heute den Truppen den Befehl erteilt, die Arbeitsverweigerung zu beenden. Wer zur Arbeit gehen will, kann das Lager in den nächsten fünf Minuten verlassen. Die Anderen haben die Folgen selbst zu tragen. Ich wiederhole … Ende!
Von den ca. 3.000 Häftlingen verließen etwa 20 Mann das Lager. Insbesondere die polnischen und ukrainischen Häftlinge riefen ihre Brust entblößend: “Freiheit oder Tod”. Mir war klar, dass die nächsten Sekunden entscheidend sein würden. Plötzlich fiel ein Pistolenschuss, abgefeuert von einem Offizier. Ein Häftling in der vordersten Reihe brach tödlich in den Kopf getroffen zusammen. Aus der siebten Reihe heraus hechtete ich in einen neben der Lagerstraße verlaufenden flachen muldenförmigen Graben, während auch schon das Feuer aus den Maschinenwaffen einsetzte. Über mir liegend verblutete ein litauischer Jesuitenpater. Es folgte ein weiterer Feuerschlag, der noch mehr Opfer forderte. Dann wurden die Überlebenden aus dem Lager hinaus in die Tundra getrieben. Einige der Häftlinge beteten laut. Ich bemerkte mitten in diesem blutigen Getümmel uniformierte Fotografen. Auf der Lagerstraße lagen annähernd 50 Tote, über hundert zum größten Teil Schwerverwundete wälzten sich stöhnend in meinem Blickfeld. Zu mir selbst sagte ich damals laut, Hennig, sieh genau hin, vergiss es nicht!
Unter den Toten befanden sich zwei Deutsche, Wolfgang Jeschke (2) und Gerd Kirsche (3). Auch mein engster Arbeitskamerad, der österreichische Ingenieur Karl Schmid (4), war unter den Opfern. Von den 120 Verwundeten waren 12 Deutsche. Heini Fritsche (5) und Bernhard Schulz (6)waren so schwer verwundet, dass sie monatelang nicht arbeitsfähig waren und damit noch wertloser für das Lagersystem. Den sicheren Tod vor Augen war es der jüdische Mithäftling Jakob Goldscheid (7), der sie mit heimlich gesammelten Nahrungsmitteln am Leben erhielt.
Bereits in den folgenden Arbeitstagen förderte der Schacht 29 wie früher 2.400 Tonnen Kohle in 24 Stunden. Doch wurden immerhin kleine Erleichterungen im Lagerleben spürbar. Häftlinge, die die Arbeitsnorm erfüllten, erhielten eine geringfügige Arbeitsentlohnung. Allerdings wurden die Kosten der Bewachung, Verpflegung, Bekleidung und Unterkunft davon abgezogen, so dass die Auszahlungen letztlich nur auf dem Papier Bestand hatten. Die Fenstergitter der Baracken wurden entfernt und die Türen nachts nicht mehr verriegelt. Das für uns wichtigste Zugeständnis aber war, dass wir erstmals nach der Verhaftung im Dezember 1953 die Möglichkeit erhielten, mittels einer Postkarte ein Lebenszeichen nach Deutschland zu senden. Einzelne Gefangene, unter ihnen auch Deutsche, wurden abtransportiert. Auf Umwegen erreichte uns die Nachricht von deren Entlassung…
Am 23. Dezember 1953 wurde der frühere Geheimdienstchef Berija durch die russische Administration hingerichtet; der Armeegeneral Maslennikow sollte sich im Frühjahr 1954 in seinem Arbeitszimmer erschießen. In diesem Jahr fielen in Moskau Entscheidungen, die uns unbekannt bleiben mussten. So soll in dieser Zeit auch über die Aufhebung der bisherigen politischen Repressionen entschieden worden sein.
Dies betraf aber auch die Aufhebung der Lager für politische Häftlinge.
Dr. Horst Hennig