Noch bestimmt die Corona-Krise die öffentliche Aufmerksamkeit. Nicht für jedes Kind ist es ein Glücksfall, nicht mehr zur Schule gehen zu müssen. Stattdessen sind einige davon Missbrauch und Mobbing in den eigenen Familien ausgesetzt. Da die unmittelbaren Schikanen in den Klassen oder auf dem Schulhof weggefallen sind, besteht die Gefahr, dass Cybermobbing rund um die Uhr verstärkt auftritt. Gar nicht so selten enden diese Handlungen mit dem Suizid eines heranwachsenden Betroffenen. Für einige Kinder und Jugendliche ist die Alternative zwischen dem Aufenthalt zu Hause und dem Schulbesuch wie die Wahl zwischen Pest und Cholera.
In der Buchneuerscheinung „Mobbing! Ursachen, Schutz und Abhilfe“ beschreibt der Autor, neben vielen anderen Gegebenheiten auch die sozialen Umstände, die Mobbing begünstigen. Wenn Kinder in der Schule andere Kinder oder Lehrer mobben, hat das neben den individuellen und familiären Ursachen auch Gründe, für die unser unvollkommenes Gemeinwesen sorgt. Hier ein kleiner Ausschnitt.
Mobbing finden wir überall in der Gesellschaft. Es ist ein Parallelsystem, das neben dem Rechtsstaat existiert. Zum Beispiel werden Mitarbeiter, denen man nicht kündigen kann, solange schikaniert, bis sie schließlich entnervt aufgeben. Prof. Dieter Zapf (Goethe Universität, Frankfurt am Main, Lehrstuhl Arbeits- und Organisationspsychologie) prägte hierfür den Begriff »System-Mobbing«. Nicht der Staat ist gemeint, sondern eine Organisation, die sich jenseits von Recht und Gesetz verselbstständigt hat und ihre eigenen Regeln ungestört entwickeln konnte. Dabei ziehen Täter, Mitläufer, Chefs und Vorgesetzte und die Verwaltung an einem Strang, denn jeder hat etwas zu vertuschen und keiner will der Nächste sein.
Krankenkassen taxieren den wirtschaftlichen Schaden, der durch Mobbing entsteht, auf jährlich zwischen 10 bis 25 Milliarden Euro. Der Mobbing-Report der Bundesregierung bezifferte 2002 die Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer auf 800.000. Im Jahr 2016 war schon von 1,5 Millionen Arbeitnehmern die Rede, die in ihrer Behörde oder Unternehmen regelmäßig und über einen längeren Zeitraum schikaniert werden. Ein Indiz dafür ist die Gesamtzahl der Krankentage einer Organisation. Antiquierte Alibi-Mobbingbeauftragte ändern an diesen untragbaren Zuständen nichts. Das Gegenteil ist der Fall, wenn sie dem vorgesetzten Direktor am Frühstückstisch die Neuigkeiten über die »Querulanten« berichten, um ihre eigene Karriere voranzutreiben und Betroffene ein weiteres Mal zu schädigen. Finger weg von solchen Beauftragten! Wenn überhaupt, können das bestenfalls externe Experten, die tatsächlich autark in einer Organisation arbeiten, in der diese Untersuchungen durchgeführt werden muss. Doch solche unabhängigen Personen such(t)en schon viele von Mobbing Betroffene erfolglos. Auch externe Berater müssen ihr Leben finanzieren und benötigen dazu weitere Aufträge. Wirklich unabhängig arbeitende Kräfte sind deshalb nur schwierig zu finden. Im Kapitel 6.7 ab Seite 108 finden Sie eine Liste mit potentiellen Helfern.
Viele Mitmenschen beklagen sich über Tendenzen zunehmender Rücksichtslosigkeiten in unserer Gesellschaft, die keineswegs nur subjektiv empfunden werden. Besonders pikant wird es, wenn Politiker, die sich gern über den Verfall der guten Sitten beklagen, davon sprechen, dass andere Personen »Pack«, »Mischpoke«, »Rattenfänger«, oder »kleine Halbneger« wären. Auch untereinander beleidigen sich Politiker im Bundestag besonders gern. Die Liste ist lang, mit einer gewissen Vorliebe sind folgende Bezeichnungen zu vernehmen: »Idiot« (114 x), »Dummkopf« (64 x), weiterhin mehrfach »Bastard«, »Arsch«, »Arschlöcher« bzw. »Arschloch« und »Drecksau«. Die Empörung ist dann besonders groß, wenn dieselben Politiker aus dem Volk mit einem ähnlichen Vokabular bedacht werden. Dann kann die Empfindlichkeit nicht groß genug sein. Kinder sind ein Abbild der Erwachsenenwelt. Dort, wo Stärke zum Machtmissbrauch eingesetzt wird, um Schwächere zu demütigen und aus der Gemeinschaft auszugrenzen, werden Kinder schnell lernen, dass es lohnt, andere Menschen mit einem gewissen Spaßfaktor am Quälen zu zerstören. Mobbing hat es schon immer gegeben, das wird sich auch in der Zukunft nicht vollständig vermeiden lassen. Kein Kind wird jedoch als Mobber oder Tyrann geboren.
In Berlin hatte sich ein 11-jähriges Mädchen das Leben genommen, weil es ihr an einer Grundschule unerträglich geworden war, das täglich erlebte Mobbing zu ertragen. Gegenüber dem Tagesspiegel äußerte sich ein Vater: »Seit mehr als einem Jahr gibt es massive Mobbingfälle an der Schule«. »Es wurde immer wieder den Lehrern und der Schulleitung gegenüber angesprochen, vom Elternbeirat, aber auch von Müttern und Vätern, deren Kinder betroffen waren. Doch man hat alle Fälle einfach abgetan.«
Dabei sind die Zustände an Berlins Schulen seit langem bekannt. Jeder dritte Berliner Schulleiter kann den Beruf nicht mehr empfehlen. So bestimmen Brandbriefe und Kündigungen den Alltag, sind »Schrottschulen« und Maulkorberlass für Schulleiter an der Tagesordnung, gibt es Drohungen der Bildungssenatorin, falls die Missstände öffentlich gemacht werden. Die Ergebnisse einer verfehlten Personalpolitik in der Lehrerausbildung machen nicht nur an Berlins Schulen große Probleme. Quer- und Seiteneinsteiger haben bereits mit den Lautstärken in den Klassen genug zu tun. Sind diese nicht begnadete Naturtalente, besitzen sie kein Handwerkszeug, um adäquat zu reagieren, geschweige denn Inhalte zu transportieren. Lässt man sie beim Einstieg auch noch allein, kann das pädagogische Unglück seinen Lauf nehmen. Wer von ihnen soll dann noch Mobbing erkennen? (…)
Die horrende Anzahl von Straftaten an Berliner Schulen bearbeitet man auf eine ganz eigene Weise. Innensenator Geisel (SPD) hat das Problem zur »Vertraulichen Verschlusssache« erklärt. Auskünfte gibt es darüber nicht, auch nicht an den FDP-Abgeordneten Marcel Luthe, der nunmehr den Klageweg vor dem Verfassungsgericht beschreiten muss: »Angesichts der erschütternden Berichte dutzender Eltern allein mir gegenüber aus zahlreichen Schulen muss die Politik des feigen Wegduckens ein Ende haben und Transparenz an den Schulen einziehen. Nur dann können wir den Kindern helfen und gegen diejenigen vorgehen, die Gewalt und Mobbing durch Unfähigkeit oder Arglosigkeit begünstigen.« (…)
Der Straftatenquote ist an Schulen exorbitant hoch, die Polizei erfährt nur selten etwas davon. Es muss Gründe geben, warum Lehrer und Lehrerinnen die Sachverhalte nur selten zur Anzeige bringen. Selbst bei eindeutigen Beweisen werden in Berlin viele Vorgänge durch die Justiz eingestellt. Beim zweiten Mal spart man sich den brotlosen Zeitaufwand. Es sind archaische barbarische Zustände, die mit einer aufgeklärten modernen Gesellschaft nichts gemein haben. Kapitelauszug Ende.
Bald wird in Deutschland wieder der Alltag weitestgehend einziehen und wir werden feststellen, trotz der Corona-Dominanz sind die alten Probleme präsent. Es besteht sogar die Gefahr, dass diese geballt auf uns zurückfallen. Ein beträchtlicher Teil der Amokläufe und Schusswaffenanwendungen gehen national und international auf Jugendliche zurück, die gemobbt worden. Auch dieser Fakt kommt im neuen Buch nicht zu kurz.
Steffen Meltzer, „Mobbing! Ursachen, Schutz und Abhilfe“, Ehrenverlag, März 2020