Neunzehnter September 1989
Nachdem Ungarn seine Grenzen für DDR-Flüchtlinge geöffnet hat, wird es immer schwieriger, ein Visum nach Ungarn zu bekommen. Fahren können nur noch diejenigen, die sich rechtzeitig Reisepapiere beschafft haben. Also müssen die Ausreisewilligen ausweichen. Die einzige Möglichkeit, noch unbehelligt die Grenze überschreiten zu können, ist der visafreie Reiseverkehr nach Polen.
In Warschau hat sich in den vergangenen Tagen die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland mit Flüchtlingen gefüllt. Jetzt sind die Aufnahmekapazitäten endgültig überschritten. Die Botschaft wird geschlossen.
Das Neue Deutschland berichtet über die akute Wohnungsnot in Westberlin. Bereits 12 000 Westberliner seien ohne Dach über dem Kopf. Die Botschaft heißt: Geht lieber nicht in den Westen, denn da werdet ihr auf der Straße landen. Die wenigsten Ausreisewilligen lassen sich von den ND-Parolen beeindrucken.
Die SED will Flüchtlinge zurückholen, bzw. Botschaftsbesetzer überzeugen, in die DDR zurückzukehren. Sie setzt dabei wesentlich auf die rhetorischen Fähigkeiten eines alerten Anwalts mit Namen Gregor Gysi.
Gysi, seit 1988 Vorsitzender des Ost-Berliner Rechtsanwaltskollegiums, hatte der SED schon häufiger Dienste geleistet, als Anwalt bekannter Oppositioneller der DDR.
In dringenden fällen wurde Gysi auch schon mal ohne Mandat tätig. So versuchte Gysi, mich im Februar 1988, als ich nach dem Willen der Staatssicherheit aus dem Gefängnis des MfS in Berlin-Hohenschönhausen in den Westen abgeschoben werden sollte, zu überreden, ohne meine Kinder das Land zu verlassen. Er, Gysi, würde sie mir „an jeden Ort der Welt nachbringen“. Er handelte damit im Sinne eines Maßnahmeplans der Staatssicherheit, der vorsah, die am Rande der bereits in diesem Buch beschriebenen so genannten Liebknecht-Luxemburg-Affäre inhaftierten Bürgerrechtler bis zu einem bestimmten Datum, auf das sich Staatschef Honecker öffentlich festgelegt hatte, abzuschieben. Gysis berühmten rhetorischen Fähigkeiten verfehlten bei mir ihre Wirkung.
Ein paar Monate später versuchte er erfolglos, einen geflüchteten Wissenschaftler in Westberlin zu überreden, in die DDR zurückzukehren. Gysi sah das als persönliche Niederlage an.
Bei der SED-Führung und der Stasi hat ihm das nicht geschadet. Wegen seiner besonderen Verdienste, und weil Gysi für die DDR im Westen eine gute Figur machte, wurde er mit einer „Daueravisierung“, gültig für die Grenzübergänge Schönefeld und Invalidenstraße belohnt.
Die wurde ausgerechnet von Stasioffizier Wolfgang Reuter, der für die Bekämpfung von DDR-Oppositionellen zuständig war, ausgestellt. Im Spätsommer und Frühherbst 1989 war Gysi, oft an der Seite von DDR- Unterhändler Wolfgang Vogel, in Flüchtlingsangelegenheiten unterwegs.
Gysi konnte zwar die DDR nicht retten, immerhin aber ihre herrschende Partei, die SED, deren letzter Vorsitzender er im Dezember 1989 wurde. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Bildung einer Arbeitsgruppe zur Rettung des Parteivermögens. Die war so erfolgreich, dass in der Legislaturperiode 1994-1998 ein Untersuchungsausschuss des Bundestages gebildet wurde, um dem verschwundenen DDR-Vermögen auf die Spur zu kommen.
Gysi und seine Genossen haben erfolgreich verhindern können, ihr Wissen Preis geben zu müssen. Mit identischen Erklärungen machten sie geltend, dass sie sich einer Strafverfolgung aussetzen würden, wenn sie aussagten. Sie kamen mit einer lächerlichen Strafgeldzahlung davon.