Während ich dies schreibe, schaue ich auf den Königsberger Obersee, an dessen Ufern die elegante Seepromenade mit gusseisernen Geländern und Granitplatten wieder erstanden ist. Am anderen Ufer sieht man Teile der alten Festungsanlage, die das Bombardement und den Beschuss der Festung Königsberg im Zweiten Weltkrieg überstanden haben. Am Abend flaniert die Königsberger Jugend am Seeufer und es ist, als sei der alte Charme der Stadt zurückgekehrt.
Vor zwei Jahren bin ich schon einmal hier gewesen und habe meinem damaligen Bericht nicht viel hinzuzufügen. Das für die Weltmeisterschaft errichtete Fußballstadion steht nicht mehr in einer Sand- sondern in einer Rollrasenwüste. Auf schöne Grünanlagen muss der Ort noch warten. Auch der Plan, die vom Stadion aus sichtbaren Plattenbauten mit Fassaden zu verkleiden, deren Silhouette an die alten Königsberger Bürgerhäuser erinnert, kam nicht mehr zur Ausführung.
Trotzdem schüttelt die Stadt mehr und mehr ihre sozialistische Tristesse ab. Sie zeigt alle Zeichen sichtbaren Aufschwungs.
Das haben wir auch den Sanktionen zu verdanken, sagt uns unsere Stadtführerin Tamara. Die hätten wie eine Peitsche gewirkt. Wurde der Bedarf an Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Gebrauchs vor den Sanktionen zu 80% aus Importen gedeckt, so werden sie jetzt zu 80% aus einheimischer Produktion gedeckt. Viele landwirtschaftliche Flächen im Kaliningrader Oblast, die brach lagen, wurden wieder in Betrieb genommen. Inzwischen gibt es sogar ein Gesetz, welches die Besitzer von landwirtschaftlichen Flächen zwingt, sie zu rekultivieren. Noch ist das ehemalige Ostpreußen, das eine Kornkammer Deutschlands war, ein Eldorado für die im ersten Weltkrieg eingeschleppte Goldrute, was in diesen Spätsommertagen dem Land einen goldenen Zauber verleiht, aber bald wird es wieder eine Kornkammer sein – diesmal von Rußland.
Tamara, gebürtige Ukrainerin, schwärmt von Ostpreußen. Es ist ihre wahre Heimat geworden. Sie liebt die ostpreußischen Dichter un zeigt uns die schönsten Baumalleen, die als Erbe der alten Bewohner nach wie vor das Land prägen, auch wenn viele dem Straßenbau für den rasant gewachsenen Autoverkehr weichen müssen.
Die ehemaligen Bewohner sind weg, aber nicht vergessen. Es gibt Initiativen, die Erinnerung an die Deutschen aufrecht zu erhalten. Wir besuchen eine Alte Schule in Waldwinkel. Hier haben Inessa, eine siebzigjährige Schönheit mit der Figur einer zwanzigjährigen Balletttänzerin und ihr Mann ein privates Museum aufgebaut. Sie haben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Gebäude gekauft, Schritt für Schritt saniert und eingerichtet.
Inessa, die nach der Geliebten Lenins genannt wurde, begab sich auf die Suche nach ehemaligen Schülern. Am 19. Januar 1945 kamen die Kinder zum letzten Mal zum Unterricht. Die schweren Kämpfe im Nachbardorf waren so deutlich zu hören, dass sie den Unterricht behinderten. Am 20. Januar kam für die Bewohner Waldwinkels der Befehl zur Evakuierung. Am 21. Januar liefen alle Dorfbewohner mit ihren Habseligkeiten, die sie tragen konnten, zur nächsten Bahnstation und erreichten noch einen Zug. Für 8000 Menschen dieses Kreises kam der Evakuierungsbefehl zu spät. Sie wurden von der Roten Armee überrollt und blieben. Als Monate später die Neusiedler aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion kamen, lebten sie anfangs mit diesen Deutschen zusammen, zum Teil im selben Haus. Probleme zwischen ihnen gab es kaum. Alle waren gleich arm. Die Neuankömmlinge hatten nur das, was sie tragen konnten, als sie nach Ostpreußen geschickt wurden. Die Felder wurden 1945/46 kaum bestellt. Es herrschte Hunger. Inessa zeigt uns eine wunderschöne Handarbeit, die bestickte Tischdecke einer Deutschen, die sie für vier Kartoffeln eingetauscht hat. Oder ein Kopfkissen, das aus einer Wehrmachtsuniform gefertigt und so lange benutzt wurde, dass die Stelle, auf der der Kopf allnächtlich lag, mit einem Flicken ausgebessert wurde.
Nur langsam wurde das Leben erträglicher. Die Neuankömmlinge lernten von den Dagebliebenen manche Ackerbautechnik. Ein Deutscher, der ihrer Meinung nach zu langsam, weil zu gründlich pflügte, wurde nach drei Jahren bewundert, weil auf den von ihm gepflügten Flächen immer noch kein Unkraut wuchs.
Da waren der Pflüger und die anderen Deutschen schon nicht mehr da. Denn die Sowjets entschieden, die verbliebenen Deutschen zu vertreiben. Danach wurde das Gebiet zur geschlossenen Zone. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Bewohner des Kaliningrader Gebietes befreit.
Inessa ist ein lebendes Geschichtsbuch. Sie kennt die Namen der meisten ehemaligen Dorfbewohner und deren Schicksale. Sie hat nicht nur die Menschen befragt, die an dem letzten Unterricht in der Schule teilgenommen haben, sondern auch viele der damals neu Angesiedelten. Sie hat ihre Geschichten in einem Buch festgehalten. Inzwischen bekommt ihr kleines Museum etwa 5000 Besucher pro Jahr, hauptsächlich Schulklassen aus allen Teilen Russlands. Die seien sehr an der deutschen Geschichte interessiert.
So wird deutsche Geschichte in Russland bewahrt, die nach Willen der deutschen Ideologen vergessen werden soll.
Inessa (rechts) neben der Ukrainerin