Von allen Sagen hat mich die von Vineta, der reichen, schönen Stadt , die im Meer versank, von Kind auf am meisten fasziniert. Noch mehr, als ich zufällig erfuhr, dass Vineta vor der Ostseeinsel Wolin liegen soll. An Tagen, an denen das Meer den Atem anhält, könnte man die goldenen Dächer der Stadt sehen und die Kirchenglocken läuten hören.
Ein ähnliches Gefühl der Faszination hatte ich, als ich vor zwei Jahren die Masuren und Ostpreußen bereiste. Hier kann man, wenn man genau hinsieht, Teile eines Deutschland entdecken, das außerhalb von Kunst, Philosophie und Literatur nicht mehr existiert. Die Überreste sind immer noch atemberaubend. Vieles von dem, was zu sehen ist, so die großartige Marienburg, die Danziger Altstadt oder die Jacobikirche von Allenstein, ist dem Wiederaufbauwillen der Polen zu verdanken. Es ist eine Reise in die Geschichte, aber auch in die Gegenwart Europas. Wo kommen wir her, wo wollen wir hin? Wer sich intensiv mit diesen Fragen auseinandersetzt, findet möglicherweise hier Antworten.
Nehmen wir Könisgsberg: Nachdem man an Häuserreihen in unterschiedlichem Stadium des Verfalls vorbeigefahren ist, wobei man feststellen musste, dass die Plattenbauten aus den 60er oder 70er Jahren weit hässlicher altern, als die Häuser, die vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurden, ändert sich das Bild schlagartig an der Uferstraße des Pregel. Am Fluss steht ein Block schöner alter Häuser, die einen Leuchtturm in ihre Mitte genommen haben. Es sieht aus, als wäre hier durch ein Wunder ein Stück Königsberg stehengeblieben und zu alter Pracht restauriert worden. Auch die Uferpromenade glänzte mit neuem Belag und einem wunderschönen Eisengeländer, ergänzt mit alten Laternen. Im Hintergrund die Dominsel mit dem wiedererstandenen Dom. Man bekommt einen Eindruck davon, was Königsberg mal gewesen war.
Diese Veränderungen hat die Stadt einem Bürgermeister zu verdanken, der auf die Idee kam, 2005 das 750-jährige Bestehen Königsbergs zu feiern. Damit begann die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Stadt, die vorher für die Kaliningrader erst 1945 begann. Tatsächlich werden immer mehr verschüttete Relikte der Stadtgeschichte freigelegt und rekonstruiert. Der Kern des alten Königsbergs war die Dominsel, die dicht bebaut war. Heute steht der Dom wieder aufgebaut in einem Park. Aber Tafeln mit Bildern der alten Straßen stehen überall in der Anlage verteilt.
Dass der Dom wieder aufgebaut werden konnte, ist übrigens dem Kaliningrader Parteikommitee zu verdanken. Als die Anweisung aus Moskau kam, die Ruinen des Doms abzutragen, erhoben die Genossen vorsichtig Einwände. Sie verwiesen darauf, dass Immanuel Kant am Dom begraben ist und Kant von Lenin in seinen Schriften als Vorläufer des Marxismus zitiert wird. Das half. Anfang der 90er Jahre begann der Wiederaufbau des Doms, der heute am Eingang eine orthodoxe, eine evangelische und eine katholische Kapelle besitzt. Der Hauptraum wird als Konzertsaal genutzt.
Bei einer Stadtrundfahrt kommt man immer mal wieder an einem Vorkriegsgebäude vorbei, das stehengeblieben ist und etwas von der früheren Stadt erahnen lässt. Die Revitalisierung vollzieht sich rund um diese Überreste. Das Experiment Kaliningrad, eine sozialistische Stadt auf den Trümmern des Kapitalismus zu errichten, ist vollständig gescheitert. Ein Denkmal des Namensgebers, das auf dem Vorplatz des liebevoll restaurierten Bahnhofs steht, ist charakteristisch dafür: hinter Kalinins Rücken entsteht eine orthodoxe Kirche, vor Augen hat er eine McDonalds-Filiale.
Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen. Wer die Gegenwart nicht versteht, kann nicht die richtigen Entscheidungen für die Zukunft treffen.
Eine Reise ins versunkene Deutschland ist enorm bildend. Deshalb fahre ich wieder hin. Wer mitkommen will, kann das Angebot von Marin-Tours nutzen.
| Ostpreußen, Westpreußen, Kurische Nehrung, Litauen & Maurische Seen | August/September 2019