von Helena Edlund
Das Zentrum für Frauen in Scheberghan sah auf den ersten Blick aus wie jedes andere Haus der Stadt: eine hohe Mauer aus Lehm rund um das Grundstück und ein großes, massives Eisentor hin zur Straße. Auf der Krone der Mauer hatte man sorgfältig NATO-Stacheldraht befestigt, in dem sich Plastiktüten und anderer Müll verfangen hatten und nun wie kleine pastellfarbene Fahnen im warmen Wind knatterten. Das Einzige, was verriet, dass es nicht ein Haus wie alle anderen war, war der bewaffnete Mann an dem Tor. Wir erfuhren später, warum seine Anwesenheit notwendig war. Nur wenige Wochen zuvor wurde das Haus angegriffen und der damalige Wächter beschossen.
Ich besuchte das Frauenzentrum, weil die Vorsitzende der Organisation, eine resolute Frau mittleren Alters, wir wollen sie Fariba nennen, Hilfe brauchte.
Fariba empfing mich in ihrem Büro, in dem sie hinter einem gigantischen Schreibtisch aus dunklem Holz thronte. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt. Die kleine afghanische Flagge sah aus wie eine Gans zwischen Schwänen, die Fenster waren mit Gardinen und Girlanden aus künstlichen Blumen verhängt, die überall in Afghanistan so typisch sind. Uns wurde ein Platz auf einem der Sofas angeboten, die ringsum an den Wänden standen.
Nach der obligatorischen Nachfrage, wie es der Familie ginge und einer Tasse Kaffee, begann Fariba ihre Geschichte zu erzählen. Während der russischen Besatzung hatte sie an der Universität in Kabul studiert und anschließend viele Jahre als Lehrerin in Scheberghan gearbeitet. Als die Taliban an die Macht kamen, musste sie zuhause bleiben. „Ich habe es gehasst, nicht arbeiten zu dürfen. Und mein Mann war auch nicht begeistert, dass ich daheim war“, berichtete sie und lachte. Mit den Jahren hatten sie und ihr Mann sich für die Rechte der Frauen engagiert. Es war ein Frauenzentrum entstanden, zuerst unter größter Geheimhaltung im eigenen Haus, dann in dem Haus, in dem sie nun waren.
Fariba und ihr Mann hatten mit viel Herzblut einen Markt aufgebaut, bestehend aus mehreren Häusern in einem größeren Garten in der Stadt, wo die Frauen ihre Handarbeiten und sonstigen Güter aus eigener Herstellung verkaufen konnten. Gleichzeitig konnten sie sich dabei um ihre Kinder kümmern. Der Gewinn kam ausschließlich den Frauen zugute und war für lange Zeit ein richtiges Erfolgsmodell gewesen. Nun aber standen die Häuser leer und der Garten lag verlassen da. Es war zu gefährlich geworden, zu umstritten. Der Markt der Frauen war geschlossen.
Fariba betonte, dass das Frauenzentrum von einem unablässigen Strom an Müttern und Kindern aufgesucht wurde, die Hilfe brauchten oder von Zuhause geflohen waren. Die Zahl war mittlerweile so groß, dass das Haus mit dem Eisentor nicht mehr ausreichte und man darum den Frauen die Aufnahme verweigern musste. Die Konsequenzen konnten tödlich sein, wenn eine Frau, die von Zuhause geflohen war, wieder zur Familie zurückkehren musste. „Aber was sollen wir machen“, stellte sie die rhetorische Frage, während sie mit ihren Armen eine dramatische Geste machte.
Kurz vor meinem Besuch des Frauenzentrums hatte in der Stadt ein brutaler Mord stattgefunden. Ein Mann hatte eine seiner vier Frauen in den Garten des Hauses gezerrt und ihr vor den Augen der übrigen Frauen und der Kinder in den Kopf geschossen. Der Mann wurde verhaftet, aber nach kurzer Zeit wieder frei gelassen. Keiner konnte erklären, warum die Frau getötet wurde. Hatte sie vielleicht das Haus ohne Erlaubnis ihres Mannes verlassen? Das hätte gereicht. Wenn sie nun einen Ort gehabt hätte, zu dem sie hätte fliehen können, wäre der Mord vielleicht zu verhindern gewesen. Eine junge Frau wäre immer noch am Leben und ihre Kinder hätten die Mutter behalten. Aber die Frau hatte keine Möglichkeit zu fliehen und nun war sie tot.
Durch Kontakte ist es Fariba und ihrem Mann gelungen, ein Gebäude am Rande der Stadt zu erwerben. Der Plan war, Wohnungen zu schaffen, in denen die Hilfe suchenden Frauen mit ihren Kindern in Sicherheit leben konnten. Aber das Haus musste renoviert und Möbel mussten besorgt werden – hier kamen wir ins Spiel. Ob wir Ressourcen hätten? Ja, war meine Antwort, die könnte es vielleicht geben, aber zuerst war abzuklären, wie die Hilfe konkret aussehen sollte.
Nach einer kürzeren Autofahrt kamen wir bei dem Gebäude an, das sich als ein großes weißes Haus mit zwei Etagen herausstellte. Wie alle anderen Häuser war es von einer Mauer umgeben, aber in dem großen Garten gab es eine Reihe von Obstbäumen und Blumenbeeten. „Hier können die Kinder spielen“, erklärte Fariba. Sie hatte offensichtlich schon einen klaren Plan vor ihrem inneren Auge und sah deutlich die Möglichkeiten, die noch unter Abfall und Unkraut verborgen lagen.
Wenn schon der Garten in keinem guten Zustand war, so sah es im Haus noch viel schlimmer aus. Beide Etagen bestanden aus langen Korridoren, von denen die Zimmer abgingen. Es war finster, kalt und feucht, der Putz war an vielen Stellen abgefallen und die Farbe hing in Fetzen von der Decke. Strom gab es keinen und viele Fensterscheiben waren kaputt. Aber Fariba war voller Eifer. „Jede Familie kann einen Raum bekommen, oder vielleicht können sich auch zwei Familien einen teilen. Für den Fußboden bräuchten wir Teppiche, die Fenster müssen repariert werden, die Türen auch, so dass man sie abschließen kann und jeder Raum muss einen Gaskocher haben …“ Sie hatte schon das fertige Bild vor Augen, nicht den Ist-Zustand. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie imstande war, weiter zu kämpfen und so viele Dinge erreichte, die andere als unmöglich eingestuft hatten. Wenn es jemanden gab, der einen „save haven“ für die Frauen in Scheberghan schaffen konnte, dann Fariba und ihre Männer und Frauen, die sie unterstützten.
Das Frauenzentrum war für uns aber eine Nummer zu groß. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde das Anliegen an die Deutschen oder Amerikaner weitergetragen, die ganz andere finanzielle Möglichkeiten hatten, wenn es um humanitäre Projekte ging. Die Deutschen hatten zum Beispiel in Scheberghan ein ganzes Kinderkrankenhaus aufgebaut, was sie stolz mit einer großen Tafel am Eingang des Gebäudes verkündeten.
Fariba und ihr Mann waren bei weitem nicht allein in ihrem Kampf für die Rechte und Freiheiten der afghanischen Frauen. Hinter der strikt islamischen und patriarchalischen Fassade keimte die Unzufriedenheit auf, sowohl bei Männern als auch Frauen, vor allem in den größeren Städten. Ein Bauunternehmer, den ich im Zuge eines Projekts außerhalb von Masar-e Scharif traf, drückte seine Freude darüber aus, dass er mit einer Frau zusammen arbeiten konnte. Bald drehte sich das Gespräch mehr um die Situation in Afghanistan, als um das geplante Bauprojekt.
Der Ingenieur war ein Mann im fortgeschrittenen mittleren Alter, geboren und aufgewachsen in der Universitätsstadt, die zwar der für die Schiiten so wichtigen Blauen Moschee Platz bot, aber trotzdem – wie viele andere afghanische Großstädte – immer schon deutlich liberaler als die Dörfer im ländlichen Raum war. In Masar-e Scharif, Herat und Kabul gab es immer noch ältere Akademiker, die mit Wehmut in der Stimme von der Zeit der sowjetischen Besatzung sprachen, er war da keine Ausnahme. „Das war die beste Zeit“, sagte er und seufzte. „Alle gingen in die Schule, Männer und Frauen studierten gemeinsam an der Universität und anschließend konnten wir uns in der Sowjetunion weiterbilden. Wir hatten Kinos und Restaurants, konnten tanzen gehen … Wer religiös sein wollte, konnte es, wer nicht, wurde dazu nicht gezwungen.“ Ich nickte und kämpfte gleichzeitig mit dem Gedanken, dass dieser Mann faktisch der sowjetischen Besatzungszeit nachtrauerte. Hatte ich nicht von Kindesbeinen an gelernt, dass so ein Zustand ausschließlich negativ sein müsse? Während meiner Zeit in Afghanistan hörte ich viele Ältere, die die Zeit unter den Sowjets vermissten. Vielleicht haben sie nicht die Besatzung vermisst, aber die Freiheit, die vielen Möglichkeiten und die relative Gleichberechtigung, die die sowjetische Herrschaft mit sich brachte.
Aber diese Erfahrung von Freiheit wird immer seltener. Ein großer Teil der Akademiker, sprich die Bevölkerungsgruppe, die am wenigsten traditionsverhaftet ist, hatte das Land bereits während der Zeit der Talibanherrschaft verlassen. Die Ärzte und Lehrer, die heute in Deutschland, den USA oder Schweden leben, gibt es nicht mehr vor Ort, so dass sie für die Rechte der Frauen in der afghanischen Gesellschaft kämpfen könnten. Außerdem ist die Hälfte der afghanischen Bevölkerung jünger als 15 Jahre – sie kennen damit gar nichts anderes als die extreme Unterdrückung der Frauen, die seit dem Terror der Taliban und der etwas schwächer ausgeprägten Misogynie der islamischen Republik herrscht.
Ja, sicher gab es Männer wie den Bauingenieur oder Faribas Ehemann, die den Traditionen trotzten und sich den religiösen Führern widersetzten und ihre Frauen zu einer Arbeit außerhalb des Hauses ermutigten, oder ihre Töchter, dass sie an den Universitäten studieren sollten. Auch wenn die weiblichen Studenten in der Umgebung der Universität für Landwirtschaft oder auf den Straßen von Mazar-e Scharif in Gruppen gingen, so doch unverschleiert und nicht unter einer Burka. Stattdessen trugen die zukünftigen Agrarfachleute farbenprächtige Schals, die sie lässig über ihr Haar drapiert hatten. Weder die Verwandten oder Lehrer noch die Öffentlichkeit hätten sie dafür bestraft.
Ich für meinen Teil war völlig von den weiblichen Übersetzerinnen abhängig, um mit den Frauen draußen auf dem Land kommunizieren zu können. Diese Dolmetscherinnen waren Töchter oder Frauen von Männern, die ihnen bewusst erlaubt hatten, einer Arbeit außerhalb des Hauses nachzugehen. Selbst die Männer, die anfangs eher zurückhaltend waren, nahmen gewöhnlich schnell eine positivere Haltung ein, sobald sie sahen, wie neues Einkommen in die Familie floss. Money talks. Im gleichen Atemzug, wie die finanzielle Situation sich durch die den Frauen gegebene Freiheit deutlich verbesserte, verhielten sich die Männer wohlwollender gegenüber einer Ausbildung oder Berufstätigkeit ihrer Frauen.
Aus den Erfahrungen und Begegnungen, die ich in den sechs Monaten in Afghanistan sammeln konnte, habe ich die Schlussfolgerung gezogen, dass die Situation der afghanischen Frauen weit komplizierter ist, als dass es dabei „nur“ um Männer geht, die eine frauenfeindliche Kultur aufrechterhalten. Ich denke, dass es in der Praxis zwei Afghanistans gibt: Auf der einen Seite das urbane Afghanistan, wo die Mädchen in die Schule gehen, Frauenzentren bestehen und sich ältere Männer und Frauen in eine Zeit mit Tanzlokalen und kurzen Röcken zurücksehnen. Städte, in denen für die Rechte der Frauen gekämpft und auch Fortschritte erreicht werden – wenn auch nur in winzigen Schritten. Gleichzeitig gibt es Landstriche, wo das Leben wie vor Tausenden von Jahren verläuft, mit einer völligen Geschlechtertrennung und Frauenverachtung. Dörfer, in denen Frauen unsichtbar hinter meterhohen Mauern leben und die Standardantwort der Männer lautet: „Women are good for nothing.“
Original-Veröffentlichung: Tema Afghanistan: Kvinnokamp i Shebreghan