Zur Rede Saul Friedländers im Deutschen Bundestag
von Gastautor Josef Hueber
WIEDER AUF GEPACKTEN KOFFERN
(Leitartikel Jüdische Rundschau, Jan. 2019)
BETROFFENHEIT UND DISTANZ – EIN DILEMMA
Aus der Psychologie weiß man, dass durch allzu große Betroffenheit die Fähigkeit, einen Sachverhalt distanziert, d.h. annähernd objektiv, zu betrachten und angemessen zu beurteilen, verloren geht. Die Rede von Saul Friedländer anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag am 31. Januar lieferte dafür geradezu ein passgenaues Musterbeispiel. Sie verdeckte – wohl aus Höflichkeit, aber auch aus nicht angemessener Demut – die Wirklichkeit gegenwärtiger deutscher Politik gegenüber Juden in Deutschland und der Regierung Israels.
DER WIDERSPRUCH DES OFFIZIELLEN ANTISEMITISMUS
Regierungsübliche verbale Bekundungen des Nie-Wieder und des stets anlassgezündeten, zerknirschten Schuldbekenntnisses stehen nämlich in zweifachem Widerspruch zu dem nur würdig klingenden Bekenntnis. Juden, die in wachsender Zahl überlegen, aus Deutschland zu emigrieren, weil die Lebenswirklichkeit immer bedrohlicher für sie wird, sind nicht Opfer von „Einzelfällen“ irregeleiteten antisemitischen Hasses, sondern Opfer einer bewusst nicht vorgenommenen Grenzschließung für illegale Zuwanderer, deren Kultur mehrheitlich von fanatischem Antisemitismus geprägt ist. Zudem betreibt Deutschland schon sehr lange eine Israelpolitik, deren gönnerhaft-allwissende Attitüde in Fragen der Friedenslösung in Nahost auch im Widerspruch zu einer moralisch gebotenen, gleichwohl nicht vorhandenen, deutschen Solidarisierung mit Israel steht. Es gibt keine oder kaum in aller Welt wahrnehmbare Zeichen deutscher Solidarität gegen hochaggressiv antizionistische und antisemitische Vernichtungsabsichten umliegender Staaten und anti- israelischer Propaganda, wie sie am deutlichsten von palästinensischer Seite an der Tagesordnung ist.
DIE TRAGIK DER DEMUT
Die Schrecklichkeiten des Judenpogroms kamen in Friedländers Rede unverhüllt und ergreifend zum Vorschein. Unsere Achtung und Verbeugung vor dem Schicksal dieses Mannes, der die Bestialität der Verfolgung der Juden als einer der wenigen, noch lebenden Zeitzeugen schildern kann, stehen jenseits aller Kritik. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die in seinen Ausführungen zum Ausdruck kommende Demut, tragisch erworben in den Leiden seines Lebens, gegen Ende seiner Rede vor dem Hohen Haus grundlegend falsch war. Sie hat die Heuchelei der deutschen Politik gegenüber den Juden in Deutschland und Israel nicht erkennen lassen und gleichzeitig den Verdacht genährt, sie internalisiert zu haben. Demut kann keine Gegenleistung für die Ehre der Einladung sein.
DAS EXISTENZRECHT ISRAELS UND EINSATZ FÜR MENSCHLICHKEIT ALS HOFFNUNG?
Friedländer erbat, was für deutsche Politik nach Auschwitz selbstverständlich sein sollte – den Kampf gegen den anwachsenden Antisemitismus in Deutschland : „Wir alle hoffen, dass Sie die moralische Standfestigkeit besitzen, weiterhin für Toleranz und Inklusivität, Menschlichkeit und Freiheit, kurzum, für die wahre Demokratie zu kämpfen.“
Wer, außer den Juden in Deutschland, muss sich darum Sorgen machen? Muss man hoffen, wo es keinen Anlass für Zweifel gibt? Die Ursachen für diesen Zweifel wurden nicht thematisiert: die Zuwanderung von Trägern einer Kultur, zu deren nachweisbaren, schon von Kindheit an vermittelten Inhalten der ausgeprägte Judenhass gehört. Und wer trägt dafür Verantwortung, dass die Juden bei uns dieser Wirklichkeit ausgesetzt werden?
Friedländers Betonung des Existenzrechts der israelischen Nation macht unverkennbar nur an einem Ort Sinn, an dem dieses Recht nicht als Selbstverständlichkeit angesehen wird : „Das Existenzrecht des Landes zu verteidigen ist, meiner Überzeugung nach, eine grundsätzliche moralische Verpflichtung.“
Kann er, kann Israel sich darauf verlassen, von Deutschland vor der internationalen Staatengemeinschaft die völlige Unterstützung dafür zu erhalten? Anders gefragt: Haben die Juden in Israel dasselbe Staatsgebilde im Sinn wie die Deutschen, wenn sie von Israel sprechen? Oder betrachtet die deutsche Politik den Staat Israel nicht vielleicht zunächst als eine grundsätzlich nur teilweise definierte Region, die im Grunde zwei Staaten umfasst, von denen eigentlich ein unvermeidlich zu bildender zweiter (Westjordanland) als heute lediglich besetztes, seitens Israel angemaßtes Gebiet ist? Anders gefragt: Hat Bundeskanzlerin Merkel dasselbe Verständnis vom Staat Israel wie die jüdischen Israelis, wenn sie die jüdischen Siedlungen westlich des Jordans verurteilt? Hat sie dieselbe Vorstellung von der Souveränität des Staates Israel wie Friedländer bzw. die israelische Regierung?
DER DOPPELTE MAßSTAB ALS SYMPTOM DES ANTISEMITISMUS
Und noch eine weitere Frage stellt sich: Wie würde sich eine solche Forderung nach der Anerkennung des Existenzrechts seines Staates aus dem Mund eines Polen, Russen, Australiers oder – noch befremdender – eines Deutschen anhören? Das Beharren deutscher Politik auf der Anerkennung der Zweistaatenlösung durch Israel als einzig möglicher Friedensalternative lässt an den aus deutscher Sicht unterschiedlichen Auffassungen vom Staat Israel, seinem Identitätsverständnis und seiner Souveränität keinen Zweifel. Diese Anmaßung ist eine internationale Einmaligkeit, die nach jüdisch-israelischem Verständnis ein deutliches Kriterium von Antisemitismus ist: der „doppelte Maßstab“ bei der Beurteilung israelischer und internationaler Politik.
VERTEIDIGUNG – NUR EINE ANGELEGENHEIT VON WORTEN?
Und was meint Friedländer, wenn er im Zusammenhang des Existenzrechts von „Verteidigung“ spricht? In Israel heißt Verteidigung, nicht nur Lippenbekenntnisse von sich geben, es heißt auch, notfalls militärisch gegen feindliche Vernichtungsabsichten vorzugehen.
Fragen dazu bleiben nicht aus:
Wie beurteilt man in Deutschland den Anspruch auf militärische Verteidigung und daraus erwachsener militärischer Aktionen angesichts der Bedrohung durch den Iran, durch Hamas und Hisbollah? Hat diese Bedrohungslage einen Einfluss auf die deutsche Politik gegenüber israelfeindlichen Staaten? Warum steht die deutsche Regierung nicht auf seiner Seite, wenn Israel die Aufkündigung des Obama-Abkommens zwischen den USA und Iran aus Sicherheitsgründen befürwortet? Warum werden die damit verbundenen Sanktionen umgangen?
DIE INSTRUMENTALISIERUNG DES GEDENKENS
Der politische Teil der Rede Friedländers war dem Parlament eine willkommene Bestätigung behaupteter Nie-Wieder-Gesinnung deutscher Politik. Es wurde freilich nicht deutlich, dass in der gegenwärtigen deutschen Politik die ständige Betonung des Kampfes gegen Antisemitismus ein taktisches Manöver ist. Das Bekenntnis, Antisemitismus nicht zu dulden, geht in Deutschland einher mit der Instrumentalisierung des Holocaust zugunsten der de- facto unkontrollierbaren Zuwanderung, indem Muslime als moderne Parallel-Opfer des Rassismus von NS-Rassismus interpretiert werden und damit die Ablehnung offener Grenzen als Antisemitismus umgedeutet ist. Offene Grenzen erscheinen so per se als moralische Pflicht, erwachsen aus der NS-Zeit. Alles andere, so die implizierte Schlussfolgerung, ist ein Wiederaufleben nationalsozialistischer Ideologie und Politik.
DIE LEGITIMIERUNG VON ISRAELKRITIK ALS ZEICHEN DER INTERNALISIERUNG ANTISEMITISCHER ARGUMENTATION
Friedländer betonte, dass es legitim ist, die israelische Regierung zu kritisieren. Warum ein Rechtfertigungszwang israelischer Politik bzw. ein Zugeständnis an deren Kritiker im Rahmen einer Gedenkveranstaltung für die Opfer deutscher NS-Politik?
Der doppelte Maßstab bei der Beurteilung von Israel gegenüber anderen Staaten wurde auch hier offensichtlich. Zudem ist diese These eine immer wieder gehörte Verkleidung von verborgenem Antisemitismus: „Man wird ja wohl noch die Politik Israels kritisieren dürfen!“
DIE KLEINE GESTE UND DAS GROßE DENKEN
Abschließend einige Beobachtungen über das Zuhörerverhalten der Parlamentarier während der Gedenkstunde.
Als Friedländer den Nationalismus und autoritäre Regimes (Ungarns Orban u. a., wer sonst?) als aktuelle weltweite Gefahren kritisierte, wurde ihm heftig applaudiert. Als er von einem “obsessiven” Hass auf Israel durch die politische Linke sprach, hörte man nichts dergleichen. Die Parlamentarier zeigten hierauf keine Reaktion: „ […] während bei der antisemitischen Linken die politisch korrekte Art der Rechtfertigung ihres Hasses darin besteht, die israelische Politik obsessiv anzugreifen und dabei zugleich das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen.“
David Berger erwähnt in einem Beitrag zu der Veranstaltung auf seinem Blog Philosophia Perennis, dass mehrere „Politiker wie Peter Altmeier (CDU) während der Rede Schäubles auf ihrem Mobiltelefon herumtippten und Akten bearbeiteten […]“. Bedarf dies alles einer Interpretation?
OBSTRUKTION – EIN ZEICHEN „LEBENDIGER FREUNDSCHAFT“?
Eine Meldung der Bildzeitung vom 18.11.2018 komprimiert Schein und Sein deutscher Israelfreundschaft:
„’Deutschland und Israel verbindet eine lebendige Freundschaft.’ Das sagte Außenminister Heiko Maas (52, SPD) im April der ‘Jüdischen Allgemeinen’.
Am Freitag verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen an einem einzigen Tag neun Resolutionen, die Israel einseitig kritisieren. Einmal enthielt sich Deutschland. Achtmal stimmte Deutschland u. a. mit Ländern wie Saudi-Arabien und Iran gegen den jüdischen Staat, kritisierte etwa die Besetzung der einst syrischen Golan-Höhen.
Bitter: Keine der Resolutionen erwähnte die rund 460 Mörser und Raketen, die palästinensische Terror-Organisationen aus dem Gazastreifen Tage zuvor auf Israel abgeschossen hatten.“
SOLIDARITÄT MIT ISRAEL ? DAS KANN WARTEN
Die Glaubwürdigkeit deutscher Betroffenheit angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus wäre nur dann gegeben, wenn Israel Deutschland, neben den USA, ausdrücklich als seinen stärksten Verbündeten betrachten könnte. Dies wäre dann Ergebnis des Lernens aus der Shoa, aus der Geschichte von Auschwitz, von anderer Qualität als die routinierte Betroffenheit bei Holocaust-Veranstaltungen.
Ein Weg dorthin ist freilich nicht absehbar. So nachhaltig prägend und bedrückend ist der historische Blick auf die Schande der deutschen Geschichte, bei jeder möglichen Gelegenheit pathetisch bekundet, dann doch wieder nicht.