von Gastautor Michael Wolski
Seit Donnerstag, dem 19.12.2018 hat Deutschland einen neuen Medien-Skandal.
Eine Edelfeder des SPIEGEL hat zugegeben, völlig oder teilweise frei erfundene Reportagen geliefert zu haben. Ein Münchhausen wurde enttarnt, der für seine tollen Geschichten regelmäßig die höchsten Auszeichnungen der Branche erhielt.
Mich interessierte dieser Beitrag, der Ende März im SPIEGEL 13/2017 erschien, und in dem Relotius aus der Kleinstadt Fergus Falls in Minnesota nach den Wahlen Trumps zum Präsidenten berichtet.
Hier antworten zwei Bürger aus Fergus Falls und zeigen, welche 11 falschen Aussagen Relotius machte. Damit ist seine Story nur noch peinlich. Falls Sie Englisch verstehen – klicken Sie hinein und nehmen Sie ein Bad im Fremdschämen. Ich habe kurz zusammengefasst:
1. Ankunft mit dem Bus in Fergus Falls. Fahrt durch „dichte Wälder, wo man glaubt, da wohnen Drachen“.
Antwort: Der Ort liegt in der Prärie, es gibt Bäume, aber keine Wälder.
2. Der bewaffnete Verwaltungsbeamte Andrew Bremseth will gern heiraten, hatte aber noch nie eine Freundin. Auch den Ozean hat er noch nie gesehen.
Antwort: Ein Foto von Andrew mit seiner Freundin, im Hintergrund das Meer. Ebenfalls Fiction ist, dass er während der Arbeit eine Pistole 9 mm trägt.
3. Die Stadt liebt den Film „American Sniper“. Er ist vor 2 Jahren ins Kino gekommen und über 40 Mio. Amerikaner haben ihn gesehen. In Fergus Fells ist er noch immer ausverkauft.
Antwort: Der Film wurde vom 16. Januar bis 19. Februar 2015 in Fergus Falls gezeigt, danach nicht mehr.
4. Neil, der Kohlenarbeiter mit den schwarzen Händen.
Antwort: Das Foto von Neil zeigt den Mann, den alle in Fergus Falls kennen: Doug Becker, den Inhaber des Fitness-Studios (der auch noch für UPS arbeitet).
5. Mexikanerin Maria. Es werden eine mexikanische Einwanderin und ihr Sohn und dessen Probleme mit Obamacare beschrieben.
Antwort: Außer der Bitte von Relotius um ein Foto hatte der Sohn kein Gespräch mit ihm.
6. Der Blick aus dem Viking Cafe. Relotius beschreibt, wie er im Viking Cafe sitzt und auf die sechs Schornsteine des Kraftwerks schaut.
Antwort: Das Viking Cafe hat nur eine Schaufensterscheibe, alle Gasträume sind ohne Fenster. Das Kraftwerk mit seinem Schornstein (einer) kann man vom Cafe aus nicht sehen, es ist etwa 2 Meilen entfernt. Eine Luftaufnahme beweist es.
8. Die Bücherei. Relotius berichtet, dass das Gebäude früher ein Kindergarten war.
Antwort: Das Gebäude für die Bücherei wurde 1986 errichtet, es war nie ein Kindergarten.
9. Zutritt zur High School. Im SPIEGEL steht: Zugang nur durch drei schuss-sichere Glastüren, ein Scanner für Waffen muss passiert werden.
Antwort: Hier in Minnesota ist es im Januar sehr kalt und deshalb haben wir zwei Türen (nicht drei). Besucher benötigen einen Passierschein, wenn sie die Schule betreten wollen. Es gibt keinen Scanner.
10. Super Bowl am Sonntag, 5.Februar 2017. Relotius beschreibt, wie er mit Bremseth in der Pizzeria Super Bowl schaut.
Antwort: Die Pizzeria hat sonntags geschlossen. Da der Bürgermeister Besitzer der Pizzeria ist, musste klargestellt werden, dass er keine private Feier am Schließtag ausgerichtet hatte.
11. Western Evening. Es wird am Beispiel des Western Evenings beschrieben, welche schönen Feste die Einwohner von Fergus Falls feierten.
Antwort: Ein Fake .
12. Die Reise der Schüler der High-School nach New York.
Antwort: Ein Fake
Meine Frage: Warum dauerte es vom Erscheinen des Beitrags im SPIEGEL Ende März 2017 bis zur Antwort aus Fergus Falls am 19. Dezember 2018 fast 19 Monate?
Der Artikel von Relotius im SPIEGEL erschien kurz nach Trumps Wahl und dem einsetzenden Trump-Bashing. Aber es gab aus den USA keine mediale Reaktion auf diese Münchhausen-Erzählung.
Wartete man auf eine günstige Gelegenheit? Beobachtete man Relotius und wie er über die USA schrieb? Mit Relotius` Artikel vom 16. November 2018 zu einer Bürgerwehr an der Grenze zu Mexiko, wurden offenbar die Nerven der Amerikaner überstrapaziert.
Die Autoren aus Fergus Falls schreiben, dass sie schon kurz nach Erscheinen des Artikels angefangen hatten, eine Replik zu schreiben, aber wegen anderer Verpflichtungen erst jetzt zum Abschluss gekommen seien.
Ich glaube, ihre Replik war kurze Zeit später fertig und harrte des geeigneten Moments der Veröffentlichung. Wer diesen Moment festlegte werden wir vermutlich nie erfahren.
Man ließ Relotius noch Zeit, weitere Märchen zu schreiben und schlug nach dem Arizona-Artikel zu.
Liest man den Artikel aus Fergus Falls, dann wundert man sich, dass dort schon von der Information zu Relotius am 19.12. durch die SPIEGEL Redaktion die Rede ist, obwohl der Artikel in Fergus Falls ebenfalls am 19.12. erschien. Der Zeitunterschied Hamburg – Fergus Falls beträgt aktuell 7 Stunden. Als im SPON um 12.45 Ulrich Fichtner mit dem Fall an die Öffentlichkeit ging, war es in Minnesota 05:45 morgens.
Ahnte man beim SPIEGEL, dass die Amerikaner durch den Gegen-Check seines Co-Autors beim Arizona-Artikel womöglich aufgeschreckt wurden? Dieser Co-Autor hatte von Relotius angegebene Interviewpartner besucht und war erstaunt, dass keiner Relotius kannte (siehe Link oben).
Die deutschen Mainstream-Medien liegen mit Trump seit 2016 im Dauer-Clinch, tonangebend der SPIEGEL. Trump und die Seinen sind für den SPIEGEL das rote Tuch und vermutlich auch der SPIEGEL für die Trump-Administration.
Hat der SPIEGEL deshalb – um das Heft des Handelns in der Hand zu haben und nicht zum Getriebenen zu werden – aus dieser Vorwärts-Verteidigung heraus die Öffentlichkeit informiert?
Oder musste sich der SPIEGEL zu dieser Verteidigungsstrategie entschließen, weil man erfahren hatte, dass die Replik aus Fergus Falls mit dem Ablauf des 19.12.2018 Central-Time angekündigt war? Dann hätte eine US-Webseite die Weltöffentlichkeit informiert und die Trump-Medien wären sicher darauf eingestiegen. Wir sollten uns die Aussagen von Snowden und den Informationen zur NSA ins Gedächtnis rufen.
Als dann am 19.12. um 12:45 die Beichte im SPIEGEL erschien, hatte man in Fergus Falls schnell den BBC Beitrag mit der Replik verlinkt und ins Netz gestellt.
Das deutsche Leitmedium hatte an diesem Tag selbst über seinen Münchhausen informiert und stand nun im nationalen und internationalen Trommelfeuer.
Was 1983 für den STERN die gefälschten Hitler-Tagebücher waren, sind heute im SPIEGEL die Beiträge von Claas Relotius. Vielleicht wird man noch weitere Münchhausens finden, denn die Bedingungen für deren Gedeihen an der Ericus-Spitze in Hamburg scheinen optimal zu sein. Ein in sich geschlossenes Weltbild mit rechts stehenden Feinden, die das menschengemachte Klima leugnen und Gegner von Migration und Genderstudien sind – das bedient man mit Geschichten, die dieses Weltbild pflegen. Relotius hat das am subtilsten umgesetzt.
Der STERN hatte mit der Veröffentlichung der gefälschten Hitler-Tagebücher seinen guten Namen verspielt. Dem SPIEGEL wird es mit seinem Münchhausen vermutlich ähnlich ergehen. Während der STERN einen Umsatzeinbruch in einem damals stabilen Marktumfeld hinnehmen musste, verzeichnet der SPIEGEL – wie fast alle anderen Printmedien – seit Jahren einen dramatischen Umsatzrückgang. In einem Jahr werden wir genauer wissen, wie hoch die Umsatzeinbußen durch den Relotius-Skandal sind.