Patagonien ist neben Sibirien eines der wenigen noch nicht vollständig kultivierten Gebiete der Erde. Hier gibt es noch wilde Naturlandschaften mit blauen Gletschern und Eisbergen, zerklüftete Andengipfel und riesige alte Wälder. In vielen Reiseführern steht, die Besiedlung des Landes hätte erst 1903 mit riesigen Landschenkungen an künftige Schafzüchter begonnen. Das ist falsch. Hier lebten seit Urzeiten u. a. die Tehuelche und die Kavéskar von Jagd und Fischfang, bis mit dem Zeitalter der Entdeckungen ihre Ausrottung begann.
Die wenigen verbliebenen Indigenen sind der Meinung, die Wiege der Menschheit hätte nicht in Afrika gestanden, sondern in Patagonien. Wer die Höhlen der Milodón am Berg Benitez gesehen hat, ist geneigt, ihnen zu glauben. Die Höhlen entstanden durch Unterwasser- Bergrutsche und spätere Auswaschungen durch einen Gletschersee. Sie wurden, besonders ihre größte, die heute Höhle der Mirodón genannt wird, zuerst von heute ausgestorbenen Tieren, wie das Riesenfaultier, das Mirodón bewohnt. Letzteres wurde 1895 entdeckt, als der Deutsche Hermann Eberhardt ein seltsames Stück Haut, das mit rötlichen Haaren bewachsen war, fand. Heute wissen wir, dass es dem Milodón gehörte, einem pflanzenfressenden Säugetier, das vor etwa 10 000 Jahren, gemeinsam mit anderen zeitgenössichen Arten ausstarb.
Danach besiedelten Hominiden die Höhlen, jene Urväter und Urmütter, die nach dem Glauben der Indigenen die Menschheit hervorbrachten.
Heute sind die Höhlen ein streng geschütztes Naturdenkmal. Ihre Umgebung hat immer noch die Anmutung eines ungezähmten Märchenwaldes. Die Bäume sehen uralt aus, weil sie über und über mit einer Flechte bewachsen sind, die dem Silberbart eines alten Mannes ähnelt.
Was hat die Ureinwohner zum Verschwinden gebracht? Wer sich diese Frage stellt, kann die Antwort in Punta Arenas finden. Der dortige Friedhof mit seinen prachtvollen Familiengräbern wird allen Reisegruppen vorgeführt. Erzählt wird die Geschichte der Sara Braun, eine reiche Schafzüchters-Witwe, die das prächtige Eingangsportal gespendet hat und deren Porträt als Beweis ihrer unvergleichlichen Schönheit deshalb zwischen den Kolonaden hängt. Sara war verheiratet mit einem litauischen Juden, der es durch Schafzucht zu immensem Reichtum brachte. Die Familie Braun war mit der Familie von José Menéndez verschwägert, dessen Grab-Monument ebenfalls auf diesem Friedhof zu finden ist. Der reichste Mann Patagoniens war zugleich einer der widerlichsten. Der hochkultivierte Herr, der sich für seinen Wohnpalast, der heute ein Museum ist, Kunstwerke und Möbel aus Europa kommen ließ, war der Meinung, dass nur Europäer ein Lebensrecht haben. Indigene waren für ihn keine Menschen. Er schickte Menschenjäger los. Für ein paar abgeschnittene Ohren zahlte er ein englisches Pfund, für abgeschnittene Brüste das Doppelte. Er fand zahlreiche Nachahmer. Ich war nicht im Museum, aber keinem Reiseführer ist zu entnehmen, ob diese schreckliche Geschichte dort thematisiert wird.
Punta Arenas, die Hauptstadt der Region Magallanes ist als Strafkolonie gegründet worden. Vielleicht hat es Menéndez deshalb in diese Gegend verschlagen.
Zulauf bekam Patagonien besonders von Menschen, die vor dem Ersten Weltkrieg flüchteten. Noch heute trifft man Schotten, die Schottland nie gesehen haben, erkennt man deutsche Farmen an ihrer akkuraten Einzäunung, obwohl die Besitzer nur noch Spanisch sprechen, schwärmen Kroaten von der Adria, die sie nur aus Erzählungen kennen, bestehen Engländer auf Sherry, obwohl das Nationalgetränk Pisco sour ist.
Neben der Schaftzucht spielte die von Ferdinand Magellan 1520 entdeckte Passage zwischen Pazifischem und Stillem Ozean eine Hauptrolle für die wirtschaftliche Entwicklung. Die heute fast leere Wasserstraße war zeitweise so dicht befahren, dass man über die Decks der Schiffe von einem Ufer ans andere gelangen konnte. Das war mit der Eröffnung des Panama-Kanals vorbei. Gut für die Buckelwale, Pinguine, Seelöwen und andere Meerestiere, deren Bestände sich seit 1914 prächtig erholt haben. Magellan hat ein großes Denkmal auf dem Hauptplatz von Punta Arenas. Der Mann steht auf einer Anhöhe, Indigene hocken zu seinen Füßen. Angeblich soll es Glück bringen, wenn man einem der Indigenen den großen Zeh küßt. Ein reichlich seltsamer Aberglaube, wenn man die Geschichte der fast geglückten Ausrottung der Indigenen kennt.
Südpatagonien ist ein Labyrinth aus Archipelen und einer schmalen Festlandsmasse. Hier herrscht eine atemberaubende Wildnis aus smaragdgrünen Fjorden, Eisfeldern, Wäldern, Wasserfällen, Flüssen und Seen, die zum Glück mit mehreren Nationalparks geschützt wird. Die Hüter der Nationalparks sind, wie in anderen Teilen Chiles, die Indigenen, die streng auf die Einhaltung der Regeln achten, die von den westlichen Touristen immer wieder gern missachtet werden.
Nachdem es einen Riesenwaldbrand gegeben hat, den ein Wanderer verursacht hat, der meinte, außerhalb der ausgewiesenen Camps ein Feuer anzünden zu dürfen, sind die Gesetze erheblich verschärft worden. Wer heute heimlich im Nationalpark raucht, muss mit Gefängnis und einer Geldstrafe bis 200 000 Dollar rechnen. Jener unvorsichtige Camper hatte eine ganze Saison ruiniert, weil der Brand sogar Seen übersprang, mit brennenden Ästen, die vom Wind ans andere Ufer geweht wurden, weshalb sämtliche Hotels, Herbergen und Campingplätze evakuiert werden mussten. Der Übeltäter musste in Schutzhaft genommen und heimlich aus dem Land geschafft werden, um ihn vor dem Volkszorn zu schützen.
Heute ist besonders der Nationalpark Torres del Paine, der gleichzeitig UNO-Biosphären-Reservat ist, Anziehungspunkt für junge Leute aus aller Welt. Es gibt eine Wanderung rund um das Paine-Massiv, das so genannte O, das in etwa 6 Tagen zu bewältigen ist, die offenbar zum Muss für viele abenteuerlustige Menschen geworden sind. Alternativ gibt es eine bergauf-bergab-Tour, das so genannte W, die ebenso beliebt ist.
Wir haben das O bis zum ersten, dem italienischen Camp, erfolgreich bewältigt und können aus Erfahrung bestätigen, dass alles, was über die Gegend gesagt wird, stimmt: Die unterschiedlichen Landschaften eint, dass sie atemberaubende An- und Ausblicke bieten. Man kann tatsächlich alle vier Jahreszeiten an einem Tag erleben, vom schönsten Sonnenschein bis hin zum Hagelschauer. Die Tour ist kräftezehrend, aber außerordentlich beglückend.
Im Nationalpark ist man am südlichsten Ende der Welt. Hier bläst einem der kalte Wind aus der Antarktis ins Gesicht. Der ist launisch, wechselt ständig seine Stärke. Wenn er auf volle Kraft geht, hat man als Mensch nur die Alternative, auf die Knie zu sinken, oder sich umwehen zu lassen. Hier führt uns die Natur noch vor, wer die wahre Herrscherin ist. Die Indigenen wissen das und sind voller Demut. die Westler müssen diese Demut erst wieder lernen. Sie sollten sich damit beeilen.