Als ich Freunden erzählte, dass ich nach Chile reisen würde, war die Reaktion: „Du suchst wohl schon, wohin Du emigrieren kannst?“ Dies sagt mehr als lange Beschreibungen über die Stimmung in Deutschland am Rande des Globalen Migrationspaktes.
Schon der Anflug auf Santiago ist spektakulär: Nach den endlosen Weiten der argentinischen Tiefebene werden die Anden überquert. Es ist hier Sommeranfang. Eigentlich müsste der Schnee auf den meisten Gipfeln verschwunden sein. Ist er aber nicht. Später erfahren wir den Grund: Letzte Woche gab es starke Regenfälle, die im Gebirge als Schnee fielen. Wir können uns, während wir uns der Hauptstadt Chiles nähern, an dem Postkartenidyll erfreuen. Dann tauchen auch noch die Küstenkordilleren auf! Santiago liegt zwischen zwei Hochgebirgsketten.
Wie üblich wurden im Flugzeug Formulare verteilt, die man ausfüllen muss, um einreisen zu können. Die Bestimmungen sind streng. Man darf keinerlei Lebensmittel mit sich führen, auch keine verpackten. Ein vergessener Marsriegel im Handgepäck kann fatale Folgen haben.
Während sich die Ankommenden auf die Zollkontrolle zu bewegen, kommen ihnen blonde Labradore entgegen, die an den Gepäckstücken schnuppern. Wenn sich ein Hund vor einen Reisenden setzt, hat man ein Problem. Es folgt eine gründliche Untersuchung des gesamten Gepäcks. Wer von den Hunden vorbeigelassen wird, muss seinen Koffer durch das Röntgengerät schieben. Ich sehe offenbar so vertrauenswürdig aus, dass mir ein Zöllner das erspart, indem er mich durchwinkt.
Unser Hotel liegt mitten in der Stadt, gegenüber dem Cerro Santa Lucía, dem zweithöchsten Hügel der Stadt, den ein schöner Park ziert. Der Verkehr in Santiago ist chaotisch. Die Chilenen legen auch kleinste Strecken mit dem Auto zurück. Die Straßen sind entsprechend verstopft.
Vor dem Eingang des Hotels befindet sich ein wilder Straßenmarkt. Auf ausgebreiteten Decken werden gebrauchte und neue Kleidung, Schmuck und Souvenirs angeboten. Später erfahre ich , dass die Händler keine Chilenen, sondern Venezulaner, Kolumbianer und seminomadische Roma sind, die in Zelten am Stadtrand wohnen.
Chile ist das wohlhabendste und politisch stabilste Land in Lateinamerika, deshalb kommen seit drei Jahren verstärkt Einwanderer ins Land. Die Mehrheit sind Hungerflüchtlinge aus Venezuela, wo das jüngste sozialistische Experiment das Land ruiniert hat. Die Venezulaner werden von den Chilenen gern unterstützt. Venezuela war ein Zufluchtsort für verfolgte Chilenen nach dem Militärputsch 1973 und der Machtergreifung Pinochets.
Die Kolumbianer sind Armutsflüchtlinge. Die drittgrößte Gruppe sind Haitianer. Nach dem Erdbeben in Haiti, machte Chile, das selbst im Erdbebengebiet liegt, das großzügige Angebot, Erdbebenopfer aufzunehmen. Statt der erwarteten wenigen Tausend kamen hunderttausend, überwiegend junge Männer. Sie fallen heute im Stadtbild sehr auf, weil sie in kleinen Gruppen herumstehen. Sie tragen erheblich zur Kleinkriminalität bei, unter der Chile sehr leidet.Wir werden ununterbrochen gewarnt, auf unsere Taschen aufzupassen, den Pass im Hotelsafe zu lassen, Geld und Kreditkarten eng am Körper zu tragen. Wegen der größtenteils illegalen Einwanderung der Haitianer hat Chile seine großzügigen Einwanderungsregeln sehr verschärft.
War es bis zum letzten Jahr kein Problem einzureisen, ein Unternehmen zu gründen, eine Arbeit aufzunehmen und sein Touristenvisum in eine Aufenthaltserlaubnis umzuwandeln, muss man jetzt vorher beim heimischen Konsulat vorstellig werden und eine Arbeitserlaubnis beantragen. Diese Erlaubnis erlischt, wenn man keiner Tätigkeit mehr nachgeht. Man muss das Land wieder verlassen.
Was in Deutschland nicht möglich ist, hat Chile in kürzester Zeit geschafft: die Einwanderung zum Nutzen des eigenen Landes zu regeln. Deshalb ist das Land dem Migrationspakt nicht beigetreten. Es will auch in Zukunft darüber bestimmen, wer einwandern darf und wer nicht.
Santiago hat 6 Millionen Einwohner, die alle auf der Straße, den Plätzen und in den Parks zu sein scheinen. Auf der Plaza de Armas, dem Hauptplatz der Stadt, wird gesungen, rezitiert, Flamenco getanzt. Die Chilenen lieben Denkmäler über alles. So sieht man nicht nur die Figuren der Stadt- und Land-Gründer, von Politikern, Künstlern und Dichtern, sondern auch einen Brunnen der Pressefreiheit und Gedenkorte für die indigenen Stämme.
Die größte indigene Ethnie sind die Mapuche, von denen noch eine Million in Chile leben. Der Dauerkonflikt mit den Mapuche, die im Süden des Landes beheimatet sind, war eine Woche vor unserer Ankunft eskaliert. Eine spezielle Antiterroreinheit, die in Kolumbien ausgebildet wurde und deshalb Dschungel-Corps heißt, hat zwei Autodiebe bis in ein Dorf der Mapuche verfolgt. Dabei wurde einer der Autodiebe, ein 29-jähriger Familienvater, durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet, ein zweiter, ein 15-jähriger Jungendlicher, schwer verletzt.
Das könnte der Tropfen gewesen sein, der den Konflikt zwischen Chilenen und Mapuche offen zum Ausbruch bringt. Santiago erlebt seitdem nächtliche Krawalle. Tagsüber fallen die vielen Sperrgitter auf, zum Beispiel um die Moneda, den Präsidentenpalast herum, der übrigens viel kleiner ist, als ich mir vorgestellt hatte.
Auf den Grünflächen rund um die Moneda stehen Statuen der verschiedenen Präsidenten Chiles. Dem Palast am nächsten befindet sich die von Salvador Allende, dessen sozialistisches Experiment durch einen Militärputsch beendet wurde. Vergessen ist, dass dem Putsch der Aufstand der chilenischen Hausfrauen voranging, die mit leeren Töpfen und Pfannen auf die Straßen gingen, um auf die wachsende Nahrungsmittelknappheit aufmerksam zu machen. Das Thema Diktatur spielt im Alltag des heutigen Chile nur eine Nebenrolle. Sozialistische Experimente werden immer wieder mit äußerster Nachsicht behandelt, zuletzt in Venezuela. Alle meine Reisegefährten eilen zu Allende. Dabei war der Präsident alles andere, als ein Demokrat.
Überall im Zentrum Santiagos sieht man frische Graffitti, Losungen wie: „Polizisten sind Mörder“. Die sind nach dem tödlichen Schuss auf den Mapuche entstanden.
Nach der Tötung gab es jede Menge Ungereimtheiten. Videos, die den Tathergang zeigen, verschwanden, der Verantwortliche der Provinzpolizei musste wegen Falschaussagen zurücktreten, die beteiligten Polizisten wurden suspendiert. Das alles hat nicht zur Beruhigung der Lage beigetragen.
Der Konflikt zwischen den Mapuche und der chilenischen Mehrheitsgesellschaft liegt tiefer. Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Mapuche von den Spaniern mit Waffengewalt aus ihrem Territorium vertrieben, verbunden mit dem Versuch, sie zu christianisieren. Das kostete zahllose Mapuche das Leben. Bis heute halten sie an ihrem angestammten Glauben fest. Sie sind nicht bereit, sich den staatlichen Gesetzen zu unterwerfen. Sie wollen nach eigenen Vorstellungen leben. Das macht die Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht schwierig. Die Mapuche haben keinen Begriff von Eigentum. Sie wollen Ihr Land zurück, aber wenn sie Land von der Regierung übertragen bekommen, veräußern sie es meist sofort wieder. Hier kollidieren die Wertvorstellungen indigener Völker mir denen der westlichen Zivilisation. Es gibt bislang keine Idee, wie dieser Konflikt zu lösen wäre.
Santiago kann auch von oben betrachtet werden. Dazu muss man in den Parque Metropolitano fahren, in dem seit Kurzem eine Drahtseilbahn aus der Schweiz in Betrieb ist, die Besucher auf die Anhöhe bringt, wo die Marienstatue, ein Geschenk Frankreichs, über der Stadt prangt. Von hier aus hat man den Überblick in alle Richtungen. Südlich befindet sich das Barrio El Golf mit seinen Finanz-Wolkenkratzern, Shopping-Malls und Restaurants, die internationales Einheitsflair verbreiten. In der Mitte und in Richtung Süden dehnt sich die traditionelle Stadt. Als Landmarken sind der Cerro Santa Lucia, ein alter Park auf einer Anhöhe mitten im Zentrum und das Stadion zu erkennen, das in den ersten Wochen nach dem Pinochet-Putsch als Gefangenenlager traurige Berühmtheit erlangte. Für das heutige Chile ist wichtiger, dass Pinochet mit seinen erfolgreichen wirtschaftlichen Radikalreformen den Grundstein dafür legte, dass Chile heute das wirtschaftlich stabilste Land in Lateinamerika ist.