Von Gastautor W.M.-P.
Der Familiennachzug – auch von nicht anerkannten Migranten – beginnt, während die neue spanische Regierung das Signal nach Afrika sendet, dass die EU-Außengrenze weiterhin offen steht. In dieser Situation veröffentlicht die Bertelsmann Stiftung den Sammelband: “Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten. Chancen und Herausforderungen kultureller Pluralität in Deutschland“, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, 2018.
Man sollte aber nicht annehmen, dass von den 10 Autoren (in der Mehrzahl Wissenschaftler, bzw. Experten mit akademischem Hintergrund) die Ursachen und Steuerungsmöglichkeiten der ungeregelten Migration analysiert werden. Nein, Migration und kulturelle Vielfalt werden als konstitutiver Bestandteil moderner Gesellschaften einfach als selbstverständlich, als normal gesetzt. Der Titel der Publikation weist unverhohlen auf die nun fällige Konsequenz hin: Die deutsche Gesellschaft müsse im Sinne des diversity mainstreaming grundlegend umgebaut werden.
Noch vor wenigen Jahren wurde Vielfalt darauf bezogen, dass Europas Hochsprachen und seine Kulturen angesichts der Vereinheitlichung durch die EU-Politik eine angemessene Förderung verdienten. Diese – meist nur deklarative, nicht tatsächliche – Hochschätzung für kulturelle Vielfalt in Europa wird nun unter der Hand auf die Migration aus völlig anderen Kulturen bezogen. Diesem Verwirrspiel dienen auch die allerorts verbreiteten Zahlen über die erfolgreiche Eingliederung von Millionen von Menschen seit 1945. Dass es sich dabei zum größten Teil um Deutsche bzw. Deutschstämmige handelte, wird als unerheblich betrachtet. Wenn also das Interesse der Bertelsmann-Stiftung nicht in der Analyse besteht, welches Interesse verfolgt sie dann?
Die Bertelsmann-Stiftung ist auf unterschiedlichen politischen Ebenen aktiv. Man denke nur an das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), das zusammen mit den Bildungsministerien die Wende hin zur Bildungsökonomie organisiert hat, d.h. Hochschulen als Unternehmen zu betreiben: Finanziell einträgliche Disziplinen (“cash cows”) werden gehätschelt, unproduktive Einheiten (“poor dogs”) möglichst mit ertragreicheren zusammengelegt, umgebaut oder abgestoßen. Die Bertelsmann-Stiftung ist natürlich eng mit den Interessen des weltweit tätigen Bertelsmann-Konzerns verbunden, der zusammen mit anderen deutschen global agierenden Großunternehmen 2006 die „Charta der Vielfalt“ verfasst hat. Angesichts von Globalisierung und demografischem Wandel, so heißt es, könnten die Unternehmen weiterhin nur wachsen, wenn sie die Kompetenzen einer kulturell breit gefächerten Leistungselite an sich binden.
In dieser Perspektive geht es Liz Mohn, maßgebliche Persönlichkeit des weltweit agierenden Bertelsmann-Konzerns und Verfasserin des Vorworts zu dem genannten Sammelband, also nicht um eine Abwägung, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um die Zuwanderung aus der Sicht des aufnehmenden Landes vertretbar erscheinen zu lassen. Im Gegenteil: Durch die Bertelsmann-Unterstützung für die politisch umstrittenen Freihandelsabkommen werden weiterhin Privilegien für global agierende Konzerne verankert, was die weltweite Migration beschleunigt. Ganz Philanthropin und unbelastet von den gravierenden Konsequenzen misslungener Zuwanderungspolitik, möchte L. Mohn „unsere Welt gerechter, friedlicher, menschlicher und damit besser“ machen (S. 8). In jedem Fremden gelte es den Menschen, ja den Freund zu entdecken (S. 7 f.). Kein Wunder, dass es in dem Sammelband ausschließlich um die Migrantenperspektive geht.
Die abendländische Kultur und die sich für die heutigen Generationen ergebende Verantwortung spielen in den Erörterungen des Bandes keine Rolle. Den Hinweis auf Autoren wie den ausgewiesenen Migrationsforscher Paul Collier (“Exodus”, BPB, 2017) sucht man deshalb vergebens. Collier hatte nachdrücklich auf die Passung des jeweiligen „Sozialmodells“ (a.a.O., SS. 38-42) als Voraussetzung für Aufnahme und Integration von Zuwanderern hingewiesen. Davon wollen die Autoren des Sammelbandes nichts wissen. Vielmehr rückt in der Mehrheit der Beiträge die soziale Tatsache der Religion, insbesondere des Islams, als Identitätsmerkmal von Zuwanderern so sehr in den Vordergrund des Interesses, dass die zentrale abendländische Errungenschaft unter den Tisch fällt: das Kultivieren der Selbstdisziplinierung, die für den freien Austausch von Argumenten unter Gleichen notwendig ist – unabhängig von despotischen und religiösen Autoritäten.
Die Konfessionalisierung des öffentlichen Raumes, die mit Hilfe von z.T. unsicheren Gerichten erzwungen wird, ist ein Experiment, gegen das die historischen Erfahrungen sprechen, die man damit in Europa schon allein mit christlichen Konfessionen gesammelt hat; man denke nur an die Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert. Berücksichtigt man darüber hinaus die nachhaltige Verbreitung islamistischen Gedankengutes in der arabisch-orientalischen Welt, so gilt dies umso mehr. Die tonangebenden Formen des Islams sperren sich im übrigen gegen die kritische Durchleuchtung der dogmatischen Texte und denken nicht daran, den weltlichen Herrschaftsanspruch des Islams oder die herabwürdigende Verhüllung der Frau aufzugeben. Hier hat die Aufklärung noch ihr Werk zu tun!
Als gäbe es keine abendländische Kultur, scheinen manche Autoren einander mit fantastischen Ideen übertreffen zu wollen: Ein Autor zögert nicht, Naziherrschaft und Holocaust als „Chance einer radikalen Neuorientierung und Öffnung gegenüber kultureller Vielfalt“ (S. 133) zu bezeichnen. Und ein anderer schwärmt von einem neuen Multikulturalismus, von einer „Neuerfindung des Wir“ durch Zuwanderung (S. 144), und dies impliziere, dass „das übergeordnete Selbstbildnis bzw. die Selbstbilder einer Gesellschaft umgestaltet werden“ (S. 145). Allerdings muss man einräumen, dass die Schienung einer deutschen Leitkultur durch christliche Normen, am besten noch in Form eines Katechismus, für solche Eskapaden einen willkommenen Anlass bietet. Dennoch kann nicht darauf verzichtet werden, dass sich reguläre Zuwanderer (auf der Basis eines wohl überlegten Einwanderungsgesetzes!) der deutschen Kultur und Sprache so zuwenden, dass sie eine positive affektive Beziehung zur neuen Heimat aufbauen. Es reicht keineswegs ein Lippenbekenntnis zu den Prinzipien des Grundgesetzes und ein instrumentelles Verhältnis zur deutschen Sprache aus.
Doch diese Überlegungen werden im Augenblick konterkariert: einmal durch die regierungsamtliche Aushöhlung der rechtsstaatlichen Ordnung aufgrund der Duldung illegaler Grenzübertritte, zum anderen durch den auf die Gesellschaft ausgeübten Zwang, unerwünschte Migranten zu integrieren. Unter diesen Bedingungen wird sich die von Armin Nassehi herbeigewünschte Vertrautheit mit dem Fremden nicht einstellen ebenso wenig wie das daraus erwachsende Vertrauen, das es erlaubt, „nicht so genau hinsehen zu müssen“ (a.a.O., SS. 80-82).