Franz Werfel – der Schriftsteller der Stunde

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Von Gastautor Ingo Langner

„Zwischen Weltkrieg II und Weltkrieg III drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Und sie nahmen das, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Und Humanität schien ihnen jetzt der bessere Weg zu diesem Ziel. Sie fanden diesen Weg sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenwahn. (…) So wurden die Deutschen die Erfinder der Ethik der selbstlosen Zudringlichkeit.“

War der Dichter und Schriftsteller Franz Werfel ein Prophet? Kann er 1945 bereits vorhersehen, was sich allerspätestens in der „Willkommenskultur“ anno 2015 offenbaren würde? Oder hat er nach zwei Weltkriegen genug erfahren, um wissen zu können, daß der „Deutsche an sich“ nur dann glücklich ist, wenn unter welchen Vorzeichen auch immer die Parole gilt: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“?

Die luzide Sentenz von den Erfindern der Ethik der selbstlosen Zudringlichkeit stammt aus dem Reiseroman Stern der Ungeborenen, den Werfel in seinen letzten Lebensmonaten vollendet. Er stirbt am 26. August 1945 im kalifornischen Beverly Hills. In dieser im Jahre 101 945 angesiedelten Dystopie lebt die Menschheit zwar schließlich doch noch in friedlicher Eintracht in einer erdumspannenden „Panopolis“, ist jedoch in geistiger Hinsicht keinen Schritt weitergekommen. Sogar im Gegenteil: sie ist nämlich „weiter von Gott entfernt“ als jene Menschheit, die zwar noch „dem Fluch des Erzengels Rechnung“ trug, doch der Erbsünde wegen noch in der Hoffnung lebte, von Gott erlöst werden zu können.

Mit dem „Großbischof“ und dem „Juden des Zeitalters“, die im Stern der Ungeborenen“ als letzte Vertreter der Menschheit figurieren, knüpft Werfel dort wieder an, wo er 1926 mit seinem sensationell gleich fünffach zeitgleich in Breslau, Bonn, Düsseldorf, Köln und München uraufgeführten Drama Paulus unter den Juden beginnt und damit prompt in die auch damals schon virulenten Mühlen der „politischen Korrektheit“ gerät. „Atheist, Materialist, Nihilist darf ein Jude heute ruhig sein, ohne gescholten zu werden, aber mit freier Seele die Tragödie der christlichen Loslösung (vom Judentum) schreiben, darf er nicht!!!“

Die gleich drei Ausrufezeichen hat Franz Werfel selbst gesetzt. Sie sind in summa ein Zeichen der Nachdrücklichkeit. Doch jedes für sich genommen können sie auch für einen Mann stehen, der qua Geburt dem deutsch-böhmischen Judentum angehört, im vom römisch-katholischen Glauben geprägten Habsburgerreich aufwächst und durch seine 1926 noch nicht legitimierte Beziehung zu Alma Margaretha Maria Schindler, (Witwe des Komponisten Gustav Mahler und bis zur Scheidung 1929 Ehefrau des Architekten Walter Gropius) von einer hochkultivierten Sphäre umwoben ist, die seinem zur geistigen Unabhängigkeit drängenden Naturell den nötigen Halt verleiht.

Paulus unter den Juden ist ursprünglich als Teil 1 einer Trilogie geplant, die noch von den Dramen Paulus unter den Heiden und Paulus und Cäsar komplementiert werden sollte. Jedoch wohl auch deshalb unvollendet bleibt, weil die Kritik ihm arg zugesetzt haben wird, die Werfel schon für das erste Drama, das den „entscheidenden Augenblick (darstellt), in dem das Christentum sich loslöst von seiner Mutterwelt“ einstecken muß. Doch „wo, wenn nicht in dieser Welt, müßte Dichtung versuchen Wahrtraumdeuterei zu sein!?“ ruft Werfel seinen Zeitgenossen in einem Nachwort zu.

So wie Franz Werfel seine Titelfigur anlegt, ist der vom Saulus zum Paulus konvertierte Hebräer mit römischer Staatbürgerschaft, insofern ein Spiegel seiner selbst, weil die Juden ihn für einen Verräter halten und ihm die junge Christengemeinde mißtraut. „Um Israels Freiheit willen, sagt: (Jesus) war ein Mensch!“ So inständig läßt Werfel den Patriarchen Gamaliel seinen einstigen Schüler bitten, der Thora treu zu blieben. Die Antwort des historischen Paulus kennen wir. Er wird zum Völkerapostel der Christenheit. Werfels Antwort kennen wir auch: „Das Wesen des Göttlichen ist es gerade, daß es sich mit dem Weltlauf nicht vereinigen kann, und in dem Moment, da es die Geschichte berührt, sie zugleich aufhebt.“

Franz Werfel hat das Kunststück fertiggebracht, bis an sein Lebensende ein ungetaufter christgläubiger Jude zu sein. Ein Paradoxon, zweifellos, und ein in mancherlei Hinsicht ungemütlicher Ort obendrein. Doch Werfel wird auf diesem Posten die Gnade zuteil, ein außerordentlich umfangreiches, vielschichtiges, metaphysik-gesättigtes poetisch-literarisches Werk zu schaffen, dessen Lektüre nicht nur für Christen und Juden reichen Gewinn verspricht.

Allein sein lyrisches Werk enthält nahezu 800 Gedichte. Schon sein Erstling Der Weltfreund erregt Aufsehen. Max Brod hat an dem Erfolg keinen geringen Anteil. Werfels Gedicht An den Leser beginnt mit der Zeile Mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein. Diese O-Mensch-Emphase setzt den Ton für zahlreiche nachfolgende Dichter, die wir dem Expressionismus zurechnen. Franz Kafka schreibt im Dezember 1912 an Felice Bauer: „Werfel ist tatsächlich ein Wunder; als ich sein Buch Der Weltfreund zum erstenmal las, dachte ich, die Begeisterung für ihn werde mich bis zum Unsinn fortreißen. Der Mensch kann Ungeheures.“

Mit Verdi Roman der Oper, verbeugt sich der nun schon als Meister des Worts geltende Werfel 1924 tief vor der Macht der Musik: „Oper ist Entfesselung, Rausch der Selbstflucht. Ihr gefährlicher Gott schlägt seine Priester oft mit dem göttlichen Thyrsosstab. Maestro Giuseppe Verdi war nach Venedig gekommen, um sich selbst ins Auge zu sehen.“ Mit diesem inzwischen leider selbst Opernkennern weitgehend unbekannten Roman geht es Werfel (im Rahmen eines fiktiven Abschnitts aus Verdis späten Lebensjahren) um die Ausgestaltung der Rivalität zwischen Giuseppe Verdi und Richard Wagner. Naturgemäß spielt dabei das von Werfel hinreißend durchbuchstabierte Thema „deutsche versus italienische Musik“ keine geringe Rolle.

Doch was ihn darüber hinaus bewegt, ist die Frage, was der musikgeschichtliche Schritt von der romanischen Oper zur nordischen Symphonie geistesgeschichtlich bedeutet: „Die menschliche Stimme wird zurückgedrängt, der gespannte Gesang und seine süßen Melodien, die so mühelos entzücken. (…) Nun reden die Instrumente. Sie können ihre Bekenntnisse nicht so strahlend hervorbringen wie die menschliche Stimme. Sie sind nicht so aristokratisch wie sie. Sie sind zu einer Art demokratisch kollektivistischem Austausch ihrer Meinungen verpflichtet wie die Parlamente, die das politische Wunschbild jener Zeit bedeuten.“

Der Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, in dem Werfel 1933 den Völkermord an den Armeniern im Weltkriegsjahr 1915 anklagt, wird, so Franz Werfel selbst, „im März 1929 bei einem Aufenthalt in Damaskus entworfen. Das Jammerbild verstümmelter und verhungernder Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das unfaßbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehens zu entreißen.“

Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd erscheint 1939 und entsteht bereits im französischen Exil. Teta Linek, noch im ersten Teil des Romans eine skurril-verschrobene Randfigur, weil sie wie närrisch hofft, sich die ewige Seligkeit erkaufen zu können, gewinnt im zweiten menschliche Größe gerade im Scheitern, weil Gott selbst sich ihrer erbarmt. Als Motto stellt Werfel seinem Roman einen Satz von Jean Paul voran: „Es ist, als hätten die Menschen gar nicht den Mut, sich recht lebhaft als unsterblich zu denken.“ Dieses existentielle Unvermögen, dessen Kern der nihilistisch grundierter Glaubens- und Gottesverlust der europäischen Menschheit ist, führt in Werfels Augen in den Abgrund: Denn der „Aufstand gegen die Metaphysik“ ist „die Ursache unseres ganzen Elends.“
„Prag gebar mich, Wien zog mich an sich. Wo immer ich liege/Wird ich es wissen? Ich sang Menschengeschicke und Gott“ In diesem Grabepigramm verweist der am 10. September 1890 in Prag geborene Werfel auf jenes berühmt gewordene aus der Feder Vergils: „Mantua hat mich gezeugt, Kalabrien raffte mich dahin, nun birgt mich Parthenope; ich besang Hirten, Landbau und Helden“.
Doch während der antike römische Dichter und Epiker schon zu Lebzeiten den Ort seines Grabes festlegen kann, denn Parthenope steht für Neapel, ist der durch Hitlers Mordbande an Leib und Leben bedrohte Werfel von 1938 an ins Exil verbannt – mithin heimatlos und ein Fremder. Als die deutsche Wehrmacht nach Österreich auch halb Frankreich besetzt, flieht Werfel zusammen mit seiner Frau Alma und Heinrich, Nelly und Golo Mann zu Fuß über die Pyrenäen via Spanien nach Portugal. Wo allerdings zunächst nur nervenaufreibende Visabemühungen auf sie warten. Bis alle fünf im Oktober 1940 endlich auf dem griechischen Dampfer Nea Hellas in die USA emigrieren können, wo Werfel bereits im Jahr darauf die amerikanische Staatsbürgerschaft erhält.
1943 wird sein Roman „Das Lied von Bernadette“ höchst erfolgreich verfilmt. Der ist in Werfels eigenen Worten „ein jubelnder Hymnus auf den geistigen Sinn der Welt. An einem holden Beispiel wird gezeigt, wie selbst mitten in unserem skeptischen Zeitalter die göttlichen Kräfte wirken und ein unwissendes, aber geniales Geschöpf hoch über das gewöhnliche Maß hinausheben.“
Der Roman erzählt die Lebensgeschichte der heiligen Bernadette Soubirous, der vom 11. Februar bis zum 16. Juli 1858 insgesamt 18 mal die Gottesmutter erscheint und sich ihr als die unbefleckte Empfängnis offenbart („Que soy era Immaculada Councepciou“). Noch auf der Flucht erfährt Werfel im südfranzösischen Pau, das bereits von Flüchtlingen überfüllt ist, „Lourdes sei der einzige Ort, wo ein von Glück Begünstigter vielleicht Unterkunft könne. (…) Auf diese Weise führte mich die Vorsehung nach Lourdes, von dessen Wundergeschichte ich bis dahin nur die oberflächlichste Kenntnis besaß.“
Franz Werfels Roman ist nach seinen eigenen Worten weit mehr als einer von vielen: „Dieses Buch ist ein Gelübde“ heißt es in einem „persönlichen Vorwort“ über die Umstände, die zur Niederschrift führen: „Werde ich hinausgeführt aus dieser verzweifelten Lage und darf die rettende Küste Amerikas erreichen – so gelobe ich -, dann werde ich als erstes vor jeder anderen Arbeit das Lied der Bernadette singen, so gut ich es kann.“
Werfel betont im Mai 1941 erneut, ein Jude und kein Katholik zu sein. Er ist sich im sicheren Los Angeles bewußt, aus höchster Gefahr von der „Immaculata“ gerettet worden zu sein und blickt erfüllt davon auf seine Anfänge als Dichter zurück: „Schon in den Tagen, da ich meine ersten Verse schrieb, hatte ich mir zugeschworen, immer und überall durch meine Schriften zu verherrlichen das göttliche Geheimnis und die menschliche Heiligkeit – des Zeitalters ungeachtet, das sich mit Spott, Ingrimm und Gleichgültigkeit abkehrt von diesen letzten Werten des Lebens.“ Dem ist, bezogen auf unsere Gegenwart, nur dies noch mit Nachdruck hinzufügen: Franz Werfel ist der Schriftsteller der Stunde.

Erdschienen in  „Die Tagespost“ im Januar 2018

Mit freundlicher Genehmigung der überregionalen katholischen Wochenzeitung.



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